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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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längsten liegenzubleiben getraute. Es war ganz still im Salon, wir sahen alle, wie er aufgestanden war und aussah wie Jesus im Tempel, wir wußten, was jetzt geschehen würde, und wollten es nicht hören, wir sahen uns an, weil sein Anblick fast nicht mehr zu ertragen war. Uns sah er nicht mehr an, nur noch sie, und ich sah etwas, das ich auch bei den anderen, späteren Geschichten sehen würde: Der Erzähler bemerkte etwas in ihr, das ihm unendlich vertraut vorkam, als wäre sie nicht die, die sie war, sondern etwas, das er schon lange kannte, so daß er seine Geschichte nicht jener Fremden erzählte, sondern jemandem, den nur er allein sah. Wir sahen also eigentlich niemanden, der Erzähler hingegen jemanden, der es ihm ermöglichte, die Worte zu finden, die der inneren Wirklichkeit seiner Geschichte so nahe wie möglich kamen. Ich hörte, wie das Geräusch des Schiffes erstarb, wie da draußen nicht mehr der breite, nächtliche Fluß lag, sondern nur noch Land, trockene Fläche. Sie hätten sich hingelegt, er habe den Großen Bären gesehen, auf den er früher mit seiner Schleuder gezielt habe, und er habe gedacht, daß der Bär zu ihm schaue, daß er alles sehen werde. Erst hätten sie noch miteinander geredet, jeder habe gesagt, er werde nicht der erste sein, der aufstehe, aber dieses Mal habe er genau gewußt, daß das für ihn stimme, und dann sei es ganz still geworden, ein leises Rascheln von trockenem Gras, ab und an noch ein Auto, das sei alles gewesen. Und dann, von ganz weit weg, sei das Geräusch gekommen, fast wie Singen sei es ihm vorgekommen, es sei unmittelbar aus den harten eisernen Schienen in seinen Schädel gedrungen, er spüre es immer noch, Tränen seien ihm in die Augen gestiegen, und dafür habe er sich geschämt, und gleichzeitig sei es herrlich gewesen, weil jetzt alles so kommen würde, wie es kommen mußte, das schreckliche, immer lautere Summen, die Stille, in der es näher kam, die Sterne über der Meseta, die Tränen, in denen sie zu feuchten, zitternden Lichtflecken verschwammen. Wir saßen reglos, ich weiß, daß ich ihn nicht mehr anzuschauen wagte, denn in seiner Stimme war das Summen in lautes Heulen übergegangen, alles sei jetzt nur noch dieses Geräusch gewesen, das könne sich niemand vorstellen, und während er das sagte, hielt er die Hände an die Ohren, und durch das, was für ihn ein tosender, alles verschlingender Sturm von Geräuschen sein mußte, sprach seine Stimme unendlich leise weiter, und er erzählte, daß er gesehen habe, wie Manolo gerade noch aufgesprungen sei, bevor die riesige schwarze, schwere Form über ihn gekommen sei, und mit weit ausgebreiteten Armen, als wolle er vormachen, wie ein Körper zerreißt, stand er in der Mitte des Salons und sah in die Runde, ohne einen von uns zu sehen, und wir, wir saßen totenstill und sahen, wie sie aufgestanden war und ihn mit einer Gebärde unendlicher Zärtlichkeit hinausführte.
    Wir blieben noch eine Zeitlang sitzen und gingen dann an Deck. Niemand sprach. Ich stand an Backbord und blickte auf das Südufer, dort, wo die fernen Geräusche herkamen. Ich sah nichts, nur den Schein unserer Lichter auf dem satinglänzenden Wasser. So war es also. Die Welt würde ihre Scheingestalten von Tag und Nacht weiter auf die Bühne schicken, als wollte sie uns noch an irgend etwas erinnern, und wir, die wir bereits irgendwo anders waren, würden zuschauen. Ich kannte das nun unsichtbare Land, ich wußte, was sich an jenen fernen Ufern abspielte. Wir würden durch die Enge von Obidos fahren, ein Labyrinth aus gelblichem, schlammigem Wasser, die Bäume des großen Waldes ganz nahe, im Furo Grande würden die Zweige unser Schiff berühren, ich wußte es, ich war schon einmal hier gewesen. Natürlich war ich hier gewesen. Nackte Indianerkinder auf Bretterstegen, Hütten auf Pfählen im Wasser, ausgehöhlte Baumstämme mit Ruderern aus Hieroglyphen, Gekreisch und Geschnatter großer Affenhorden in den Baumtürmen, wenn der Abend hereinbricht. Wieder einmal hereinbricht. Manchmal ein elektrischer Sturm in das Schwarz des Himmels geschrieben, wütende, blitzende Worte, unleserlich, zuckend. Und danach, wenn wir die Enge passiert hätten, die Berge wie seltsame Tische, Santarem, auf halbem Weg nach Manaos mit seiner aberwitzigen Oper, das grüne Wasser des Tapajos, das sich in den vergoldeten Schlamm mischt, und das andere, so viel grellere Grün und Rot und Gelb der kreischenden Papageien, Schmetterlinge wie schwebende, farbige
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