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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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Gesicht du auch zeigst, erkennbar oder gerade nicht, erwartet oder unerwartet, es muß etwas mit Erfüllung zu tun haben. Ich bin neugierig.
    Jetzt ist nur noch Deng da, und er ist vor mir an der Reihe. Das Schiff scheint zu schleichen, es will nirgends mehr hin. Ich weiß den nächtlichen Urwald rings um uns, wenn wir an einer Siedlung vorbeikommen, rieche ich den Geruch getrockneter Fische und faulender Früchte. Manchmal höre ich die Stimmen von Kindern über dem Wasser, manchmal kommt ein Kahn mit Indianern vorbei, dann höre ich noch eine Weile das Schluchzen des Dieselmotors. Coari, Fefé, die Welt hat noch Namen.
    Ihr seid schon da, als ich eintrete. Meine Geschichte werde ich dir allein erzählen müssen. Du trägst deine Persephone-Maske (Pater Fermi: »Aber Sie als Kenner der Klassik müssen doch wissen, daß der Tod eine Frau ist«), aber Professor Deng sieht etwas anderes, etwas, das vielleicht mit dem Dichter zusammenhängt, mit dem er sein Leben verbracht hat wie ich das meine mit Ovid, und plötzlich läßt er uns mit seiner Altmännerstimme die Menge hören, die ihn niederschreit, seine eigenen Studenten in den Tagen der Kulturrevolution, auf einem Podest habe er stehen müssen und sei bespuckt und geschlagen worden, weil er die Revolution verraten habe und sich in den dekadenten, feudalistischen Hervorbringungen der ausbeutenden Klasse gesuhlt habe, weil er eine Kaste, die das Volk erniedrigt hätte, verherrlicht habe und sich mit Produkten des Aberglaubens und den belanglosen persönlichen Gefühlen von Menschen aus einer verachtenswerten Epoche beschäftigt habe. Er hatte Glück gehabt, er war lebend davongekommen und an einen entlegenen Ort auf dem Land verbannt worden, wo er weitergelebt habe, bis wieder neue Veränderungen gekommen seien, doch irgend etwas war gebrochen und angeknackst, wie Qu Yuan fühlte er sich gefangen in einer vergifteten Zeit, in der er nicht leben wollte, und als er gesehen hatte, daß das Rad der Veränderung sich wieder einmal eine Umdrehung weiterdrehte, hatte er der Welt den Rücken zugewandt und war gegangen. Er zitierte seinen Dichter: »Ich war am Morgen geschmäht und am selben Abend noch aus dem Weg geräumt.« Mit nichts als seinem Gedicht im Gepäck hatte er sich aufgemacht, bis er an einen Fluß kam, und so hatte er sein Leben hinter sich gelassen, wie ein Ding am Ufer. Das Wasser war schwer in seine Kleider gedrungen, er war wie ein kleines Boot geschwommen und hatte gewartet, bis der Wind aufkommen und er seine große Reise antreten würde. Um sich hatte er das Wasser mit allerlei Stimmen gehört, ganz hell und leise hatte es geklungen. Sein Arm machte eine Bewegung zu dir hin, es war schon fast nichts mehr von ihm zu sehen, als bestünde er aus hauchdünner, uralter Materie, und du hattest die gleiche Bewegung gemacht und warst bereits aufgestanden.
    Im entfernten Spiegel des Salons sah ich mich allein dasitzen und dachte an diesen Mann in Amsterdam, das Foto in der Hand, den Traum, den er träumte, in dem ich an ihn dachte. Ich ging an diesem Mann, der Sokrates glich, vorbei nach draußen, ich sah in die blinden Augen unter den groben Brauen, auf den denkenden Neandertaler-Kopf, der an mich dachte in Amsterdam. Das Schiff hinterließ kaum mehr ein Zeichen, das Wasser war so still und schwarz, daß ich die strahlenden Schlangen und Skorpione, die Götter und Helden sich im Glas spiegeln sah, ich hätte mich auch gern hineingleiten lassen wie Professor Deng, ich hatte die Wollust des Abschieds auf seinem Gesicht gesehen. Von den Ufern ertönte ein tiefes Quarren von Kröten oder Riesenfröschen.
    Wie lange ich da stand, weiß ich nicht, die Sonne tauchte noch einmal von Osten her den Urwald in eine schreckliche Glut, noch einmal strich der hastige Schein des Tages über den Fluß, bis das Schwarz sich wieder über alles legte, Vögel und Bäume, und es einhüllte. Unwissend war dieser Mann in Amsterdam schlafen gegangen, nicht wissend, was für eine Reise er machen würde. Jemand würde ihn finden, sobald ich dir meine Geschichte erzählt haben würde, Leute würden kommen, um diesen gedrungenen Körper aufzubahren, in Westerveld einzuäschern, meine unmögliche Familie würde meine Ovid-Übersetzung wegwerfen oder weiß der Himmel ebenfalls verbrennen, Dr. Strabo’s Reiseführer würden vielleicht noch zehn Jahre weiter erscheinen, bis sie einen anderen Idioten gefunden hätten, ein ehemaliger Schüler würde die Todesanzeige von Herman Mussert lesen und
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