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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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Tücher und abends die handgroßen samtenen Motten, die sich in den Decklichtern versengten.
    So sollte es weitergehen, eine Schwere, eine Last, und wir, die Reisenden, in einer Vorhölle. Jeden Abend, wenn man so sagen durfte, würde einer von uns seine Geschichte erzählen, und ich würde sie kennen und nicht kennen, und jede dieser Geschichten würde das Ende einer anderen, längeren Geschichte sein. Das einzige war, daß die anderen so viel besser zu wissen schienen als ich, was sie erzählen sollten. Gut, ich weiß es jetzt, aber damals noch nicht. Ein Erzähler mit einer Geschichte ohne Ende ist ein schlechter Erzähler, das weißt du. Angst hatte keiner, soweit ich sehen konnte. Das war bereits vorbei. Was ich selber spürte, war eine Verzückung, die ich nicht erklären konnte.
    Der Fluß wurde schmaler, war aber immer noch so breit wie ein See. Bei Manaos überquerten wir die Scheidelinie zwischen dem Amazonas und dem Rio Negro, das schwarze neben dem braunen Wasser in der Flußmitte, zwei Farben, die sich dort nicht miteinander vermischen, das schwarze Totenwasser geschliffen wie Onyx, das braune gegerbt und zäh, von der Ferne erzählend, dem Urwald. Wann ich an der Reihe sein würde, wußte ich nicht, vorläufig konnte ich zuhören und die anderen betrachten, die Ereignisse ihres Lebens lesen, als hätte jemand sie für mich erdacht. Der Priester lauschte Harris’ Geschichte, als müsse er noch einmal im Beichtstuhl sitzen, und Harris brauchte die Geschichte von Pater Fermi nicht mehr zu hören, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits verschwunden war.
    Er war der zweite, und wir lauschten, so wie wir allem lauschen sollten, es war eine Abschiedszeremonie, das Feiern der Zufälligkeit, die unsere Leben an eine Zeit und einen Ort und einen Namen geheftet hatte. Und wir waren höflich, wir starben miteinander mit, wir halfen uns gegenseitig, jene letzte Sekunde zum Ende einer Geschichte auszudehnen, wir hatten noch etwas zu tun, es mußte noch nachgedacht werden, und es schien, als hätten wir dafür mehr Zeit, als wir verbrauchen konnten.
    Harris war in einer Bar in Guyana niedergestochen worden, all diese unendlichen Sekunden lang, in denen das silbern aufblitzende Messer in ihn eindrang, hatte er Zeit gehabt, um sich in Lissabon einzuschiffen und mit uns zu reisen, und noch immer war dieser Todesstoß nicht an sein Ziel gelangt. Irgend etwas mit einer Schwarzen war es gewesen, in einem verfallenen Bordell in einem Außenbezirk von Georgetown, aus tausend Kilometer Entfernung hatte er dieses eifersüchtige Messer ankommen sehen, sein ganzes Leben hatte er darin unterbringen können, was ihm auffiel, war, wie logisch dieses Leben verlaufen war, das war das Wort, das er gebrauchte.
    Dreizehn Minuten, natürlich wußte Captain Dekobra das noch genau, hatte es gedauert zwischen dem Augenblick, in dem der erste seiner vier Motoren ausfiel, und dem Augenblick, in dem er die Meeresoberfläche berührt hatte: Sound of impact. Er erzählte von der Wolke an dem wolkenlosen Himmel, die, weil er die Sonne hinter sich hatte, wie ein gigantischer silberner Mann ausgesehen habe, der sich, als er sich ihm näherte, über den ganzen Himmel auszudehnen schien. Er habe in diesem Moment nicht an die Hunderte von Pilgern gedacht, die mit ihm aus Mekka zurückgeflogen seien, sondern an seine Frau in Paris und an seine Freundin in Djakarta, aber eigentlich noch mehr an zwei alberne Dinge, die da unten, irgendwo auf der Erde, in zwei verschiedenen Tiefkühlfächern lagen. Alles andere sei inzwischen weitergegangen, das Radar habe wieder einmal nicht richtig funktioniert, er habe nicht gleich begriffen, daß es sich hier um eine Wolke aus Vulkanasche gehandelt habe, die der Krakatau unter ihm ausgestoßen habe, er habe seine Motoren unter sich sterben hören, einen nach dem anderen, die Temperatur sei von 350 Grad auf fast nichts mehr gesunken, weil keine Verbrennung mehr stattgefunden habe, natürlich sei er erschrocken, er habe versucht, die Motoren mit der Zusatzzündung wieder in Gang zu setzen, aber nichts, kein Antrieb mehr, und plötzlich sei es wieder gewesen wie bei seinem ersten Segelflugzeug, vor so langer Zeit, nur sei dies das größte Segelflugzeug gewesen, das es gab, mit unirdischem Rauschen seien sie durch die Luft geschwebt, er habe Schreie von hinten gehört, er habe auf seine Notbatterien zurückgegriffen, habe das Notrufsignal abgesetzt, und in all dieser Fieberhaftigkeit sei eine überirdische Ruhe über ihn
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