Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
Autumn unterrichtet jetzt irgendwo in Austin, Texas. Und nein, ich habe nie mehr unterrichtet, und ja, ich bin der Autor von Dr. Strabo’s vielgelesenen Reiseführern geworden, mit denen sich so mancher Niederländer ins gefährliche Ausland wagt. Manchmal, ganz selten, treffe ich ehemalige Schüler. Eine schreckliche Reife hat Besitz von ihrem Gesicht ergriffen, die beiden Namen, die über ihren Köpfen schweben, sprechen sie nie aus. Ich auch nicht.
    Peter Harris stellte sich neben mich.
    »Ich dachte, Sie hassen das Tageslicht«, sagte ich. Er roch nach Alkohol, wie Arend Herfst an jenem Morgen. Die Welt ist ein einziger unaufhörlicher Querverweis. Aber er schlug mich wenigstens nicht. Er hielt mir seinen Flachmann hin, und ich lehnte ab. »Wir nähern uns dem Land«, sagte er.
    Ich schaute zum Horizont, sah aber nichts.
    »Sie müssen nicht dorthin schauen. Hier unten.« Er deutete auf das Wasser. Die ganze Reise über war es grau gewesen, oder blau, oder schwarz, oder alles zugleich. Jetzt war es braun.
    »Sand aus dem Amazonas. Schlamm.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich bin hier schon mal gewesen. Und wir sind nach Südwesten gefahren. In ein paar Stunden sieht man Belém. Ich war immer der Meinung, daß das eine gute Idee von den Portugiesen war. Man fährt weg in Belém, man kommt an in Belém. Auf diese Weise erreicht man doch noch so etwas wie die ewige Wiederkehr. Woran Sie natürlich nicht glauben.«
    »Nur bei Tieren.« Das war nur so dahingesagt.
    »Warum?«
    »Weil sie immer als sie selbst wiederkehren. Sie könnten keinen Unterschied erkennen zwischen einer Taube von 1253 und einer von heute. Es ist einfach dieselbe Taube. Entweder sind sie ewig oder sie kehren immer wieder.«
    Belém. Ich sah es vor mir. Den Praça da República in der dampfenden Hitze, das Teatro da Paz. Es ist ein Schicksal, überall gewesen zu sein. Universität, Zoo mit Anakondas, Goldhasen und matanees , Kathedrale aus dem 18. Jahrhundert. Alles in Dr. Strabo’s Reiseführer. Ja, ich kannte Belém. Der Bosque mit seinen tropischen Pflanzen, Eintritt vierzehn Centavos. Indianische Nutten. Und das Goeldi-Museum. Lehr mich die Welt kennen. Mein Koffer ist mein bester Freund.
    Das Wasser nahm ein tieferes, bitteres Braun an. Große Holzstücke trieben darin, dies war der Schlund des großen Flusses, hier kotzte ein Kontinent sich die Gedärme aus dem Leib, dieser Schlamm war von den Anden bis hierher geströmt durch den geschundenen Urwald mit seinen letzten Geheimnissen, seinen letzten verborgenen Bewohnern, der verlorenen Welt der ewigen Finsternis, tenebrae. Procul recedant somnia, et noctium fantasmata. Halte mir fern die bösen Träume, die Trugbilder der Nacht. Das beten Mönche, bevor sie schlafen gehen. Dunst schien über dem Wasser zu hängen, wie Schleier. Gleich würden wir die beiden verzweifelt fernen Ufer sehen, zwei Geliebte, die einander nie bekommen würden. Auch die anderen waren an Deck erschienen. Die Frau mit dem Jungen, die beiden alten Männer, die einem Zwillingspaar glichen, der Captain mit seinem Fernglas, jeder in seiner eigenen Nische, allein oder zu zweit. Meine Reisegesellschaft.
    Die Wellenbewegung wurde schwächer, aus der dampfenden Wasserfläche wurde eine Schale, auf der das Schiff wie ein Opfer lag. Bewegten wir uns noch? Ich schaute zu den anderen, meinen seltsamen Freunden, die ich nicht ausgewählt hatte. Wir waren einander vom Zufall bestimmte Begleiter, ich gehörte zu ihnen wie sie zu mir. Lange konnte es nicht mehr dauern. »Gold und Holz«, hörte ich Harris sagen. Für einen Moment war sein Gesicht unter dem kastanienbraunen Haar verschwunden, und ich sah einen Mann ohne Gesicht, der einfach weitersprach. Langsam gewöhnte ich mich daran, an plötzliche Abwesenheiten, unausgefüllte Konturen, Hände, die man lokalisieren konnte, ohne sie zu sehen. Gold und Holz, ich lauschte, die Welt hatte mir noch alles mögliche zu erzählen, und das würde sie, wie es aussah, einstweilen auch weiter tun. Gold, darüber hatte er einmal ein Buch geschrieben, dieser Schatten von einem Harris, der große Goldkrieg zwischen Johnson und de Gaulle, von dem niemand je sprach, weil Vietnam alle Aufmerksamkeit von diesem Thema abgelenkt hatte. Und doch sei es ein richtiger Krieg gewesen, ohne Soldaten, aber mit Opfern; er habe ein Buch darüber geschrieben, und niemand habe es gelesen. Und Holz, deswegen sei er hier gewesen, in Amazonien, The lost world , ob ich je das Buch von Conan Doyle gelesen hätte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher