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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende
Autoren: Karin Alvtegen
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Podest sitzen und über die Leute hinwegblicken.
    Sie zog sich das Kleid über den Kopf und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Brust, die endlich zu wachsen begonnen hatte, wurde gehörig platt gedrückt.
    Der Abend würde furchtbar werden.
    «Und außerdem nimmst du die blauen Haarspangen», rief ihre Mutter. « Gun-Britt kann dir helfen, sie ins Haar zu stecken.»
    Akkurat steckten die beiden Haarspangen in ihrem Haar, als sie eine Stunde später auf ihrem Platz zwischen dem Verkaufschef und seiner übel riechenden Frau saß. Sie schielte zum Jugendtisch hinüber, während sie artig die schmeichlerischen Fragen ihrer Tischnachbarn, wie es ihr in der Schule gehe, beantwortete. Sie merkte, dass ihre Mutter in regelmäßigen Abständen zu ihr hersah, und sie fragte sich, auf welche Weise diese ihre Missbilligung über die Aufsässigkeit zum Ausdruck bringen würde.
    Sie musste bis zum Dessert warten, um es zu erfahren.
    « Sibylla. Du singst uns doch etwas vor?»
    Unter ihrem Stuhl tat sich ein Loch auf.
    «Aber Mama, muss ich wirklich ...»
    «Nun. Nimm doch eins von den vielen Weihnachtsliedern, die du kannst.»
    Der Verkaufschef lächelte ermunternd.
    «Ein Weihnachtslied wäre wirklich schön. Kannst du Glanz über See und Strand ?»
    Sie wusste, dass sie in der Falle saß. Da war nichts zu machen. Sie sah sich am Tisch um. Aller Augen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet. Irgendjemand klatschte in die Hände, und rasch verbreitete sich die Information im Saal, dass Sibylla Forsenström singen werde. Alle Gesichter am Jugendtisch wandten sich zu dem kleinen Podest um, und es erhob sich ein spontaner Sprechchor, der sie dazu bewegen sollte, sich zu erheben.
    «Sibylla! Sibylla! Sibylla!»
    «Müssen wir dich noch mehr drängen?», fragte ihre Mutter. «Du siehst doch, alle warten.»
    Sie schob langsam ihren Stuhl zurück und stellte sich hin. Das Gemurmel im Saal legte sich und sie holte Luft, um es hinter sich zu bringen.
    «Wir sehen nichts», rief jemand am Jugendtisch. «Stell dich auf den Stuhl!»
    Flehentlich sah sie ihre Mutter an, aber die winkte nur leicht mit der Hand, zum Zeichen, dass sie damit einverstanden war.
    Ihr schlotterten die Knie und sie fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie sah zum Jugendtisch hinüber und über das höhnische Grinsen dort gab es kein Vertun. Dies würde der Höhepunkt der Feier werden.
    Sie holte noch einmal Luft und begann mit zitternder Stimme zu singen. Schon nach der ersten Zeile merkte sie, dass sie viel zu hoch angefangen hatte. Die hohen Töne am Ende würde sie unmöglich treffen. Und so war es auch. Ihr versagte die Stimme, und das Gekicher im Saal traf sie wie Peitschenhiebe. Mit blutrotem Kopf setzte sie sich wieder auf den Stuhl, und nach kurzem Zögern begann der Verkaufschef zu applaudieren. Schließlich gelang es ihm nach einem gewissen Schwanken, auch die anderen mitzuziehen. Sibylla fing über den Tisch den Blick ihrer Mutter auf und sie sah, dass die Bestrafung zu Ende war.
    Jetzt würde sie in Ruhe gelassen werden.
    Auf dem Heimweg war ihr Vater glücklich und zufrieden über die gelungene Veranstaltung. Seine Frau nickte ermunternd und hakte sich bei ihm ein. Sibylla ging ein paar Schritte hinter ihnen und war gerade stehen geblieben, um einen schönen Stein aufzuheben. Ihre Mutter drehte sich um.
    «Es war doch wirklich gut, zum Schluss noch zu singen.» Der eigentliche Sinn dieser Worte war ihnen beiden klar. Die Mutter beendete ihre Zurechtweisung. «Schade nur, dass es am Ende nicht mehr so ganz klappte.» Sibylla ließ den schönen Stein liegen.
    Verdammter Mist, das war das Erste, was ihr durchs Hirn sc hoss. Dabei hatte er doch so einen perfekten Eindruck gemacht. Jetzt wurde ihr klar, dass sie auf einer Zeitbombe saß. Selbstverständlich interessierte sich die Polizei ganz besonders für die Frau, mit der er gegessen und der er dann so gentlemanlike zu einem Hotelzimmer verholfen hatte. Dass diese mysteriöse Frau, hinter der die Polizei her war, eine andere als sie sein sollte, war genauso wahrscheinlich wie der Fall, dass ihr jemand auf der Straße nachgelaufen käme und sie fragte, ob sie im Schärengarten von Stockholm ein Häuschen mit weißen Ecken übernehmen wolle.
    Ihre erste Empfindung war Wut. Ohne zu zögern betrat sie die Tankstelle, riss eine der Zeitungen an sich und schlug den Mittelteil auf.
    Mörder schändete sein Opfer.
    Vier Wörter in schwarzen Lettern. Die eine Seite wurde von einem Bild Jörgen Grundbergs
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