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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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sein Vorhaben aufzugeben. Denn noch nagte in seinem Magen der schwarze Schatten der Familie. Er nickte ein.
    Als er erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Die grellen Strahlen, die durch das Dach aus Strauchwerk einbrachen, zeichneten schwache Lichtnadeln, in denen Staubkörner schwebten, auf sein Knie. Kaum hatte er die Augen aufgeschlagen, spürte er seine tauben Muskeln. Seiner Schätzung nach hockte er seit sieben oder acht Stunden in diesem Loch, und er beschloss, endlich hinauszuklettern. Behutsam hob er den Kopf, bis er mit dem Haarschopf an die Abdeckung stieß. Der Hals wie ein eingerostetes Scharnier. Langsam und steif richtete er sich auf und schob ein paar Zweige beiseite, um Ausschau zu halten und sich davon zu überzeugen, dass sich wirklich niemand mehr in der Nähe befand. Er könnte hinausklettern und in nördliche Richtung losmarschieren, da er von einer Wasserquelle wusste, einer Tränke, zu der die Maultiertreiber ihre Tiere führten. Dort könnte er sich im Schilfgras verstecken und einen Moment der Unachtsamkeit abwarten, um sich auf den Wagen von einem der fahrenden Händler zwischen Pfannen und Kniehosen zu schmuggeln und erst viele Kilometer vom Dorf entfernt wieder hervorkriechen. Doch er machte sich nichts vor. Um zur Wasserstelle zu gelangen, müsste er am helllichten Tag offenes Gelände durchqueren, nur hier und da ein Steinhaufen als Deckung. Auf der weiten Ebene würde jeder Schäfer oder Jäger in seiner schmächtigen Gestalt sofort die des vermissten Jungen erkennen. Ihm blieb also nichts weiter übrig, als noch bis zur Abenddämmerung in seinem Schlupfloch auszuharren, bis zu dem Moment also, wenn seine drahtigen Gliedmaßen für trockenes Gestrüpp oder irgendeine vage Gestalt im orangeschimmernden Gegenlicht der untergehenden Sonne gehalten werden konnten. Er rückte die Zweige wieder an ihren Platz zurück und kauerte sich nieder.
    In seinem Gefängnis beobachtete er Käfer, Spinnen und vor allem Würmer. Er tastete sich zu der Nische vor, in die er den Proviant gestopft hatte. Zog den Leinensack auf und nahm ein Stück Räucherwurst heraus, in das er vorsichtig hineinbiss. Dann trank er lauwarmes Wasser aus dem Schlauch, der sich während des tagelangen Wartens vor der Flucht in seinem Versteck wie eine tote Katze aufgebläht hatte. Schon bald spürte er, wie sich seine Blase füllte. Die geduckte Haltung drückte schmerzlich, und schließlich entwichen ihm ein paar Tropfen. Als der Druck unerträglich wurde, versuchte er, sich die Hose herunterzustreifen. Mühselig machte er sich am Hosenstall und am Gürtel zu schaffen, eingeengt, kaum Platz, sich zu rühren. Er erwog, kurz aus dem Loch zu klettern, fürchtete aber, von weitem gesehen zu werden oder irgendeine noch so unbedeutende Spur für den Trupp zu hinterlassen, der sicherlich weiterhin nach ihm suchte. Nach einer Weile gelang es ihm, den Hosenbund gerade so weit herunterzuziehen, dass seine Pobacken frei wurden. Er schob sein Glied zwischen die Beine und versuchte, es möglichst vom Körper wegzuhalten, doch als er wegen der Enge seines Verstecks mit der Vorhaut an seine Waden stieß, konnte er nicht länger an sich halten und ließ sich gehen wie ein ins Rollen geratener Stein. Nach all den Stunden, die er dort am Boden des Erdlochs gekauert hatte, war die plattgedrückte Tonerde zu einem Becken geworden, in dem sich nun eine Urinpfütze bildete.Die phosphorhaltige Luft verwandelte seinen Unterschlupf in einen Giftherd. Er reckte sich und verrenkte den Kopf, um mit dem Mund einen Spalt in der siebartigen Abdeckung aus Zweigen zu finden, bemüht, Luft von draußen einzuatmen. Es trieb ihn geradezu an die Oberfläche, und es kostete ihn Mühe, das Dach nicht aufzubrechen und in dem Olivenhain aufzutauchen. Er schloss die Augen und krallte sich an die Wurzeln, die zum Sterben verurteilt ins Loch ragten. Nach endlosen Minuten unermesslicher Anspannung, die seine Haltung hervorrief, spürte er die Verkrampfung seiner Muskeln, und da befiel ihn plötzlich eine lähmende Erschöpfung, die ihn zwang loszulassen und sich wieder in die Form des Erdlochs einzupassen. Die feuchte Schwüle betäubte ihn, und die aufgeweichte Tonerde, auf der sein Kreuz ruhte, bereitete ihm ein dumpfes Unbehagen. Eine Benommenheit, die ihn eindämmern ließ.
    Geweckt wurde er von einem Blätterrascheln, das von draußen kam, zu einer Tageszeit, als das durch die Abdeckung einsickernde Licht nahezu gänzlich an Kraft verloren hatte. Dem Geräusch
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