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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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verbarg, immer näher. Bei genauerer Betrachtung sah der Hund nicht sehr wild aus, aber der Junge wusste, dass man dieser Art von Vierbeinern nie ganz trauen durfte. Bastarde nannte man sie im Dorf, Promenadenmischungen ohne Stammbaum, verkümmert durch unzählige Kreuzungen, denen jegliches Rassemerkmal verlorengegangen war. Wenige Meter vor ihm hielt das Tier inne, alle seine Sinne auf das Dickicht der Feigenkakteen gerichtet. Es schnupperte in der Luft. Dann plötzlich begann es, das Versteck des Eindringlings neugierig, mit wedelndem Schwanz zu umkreisen. Als der Hund ihn schließlich entdeckte, geschah das unaufgeregt und ohne Gebell. Er kam friedlich herbei und beschnupperte die Hand, die der Junge ihm hinstreckte, um zu verhindern, dass er bellte. Schließlich leckte er ihm die Hand, und der Junge verlor seine Angst, ertappt zu werden.Der ihm anhaftende Geruch nach Erde oder nach Urin schien ihn der Welt des Hundes anzunähern. Er nahm den Kopf des Tieres in beide Hände und kraulte es mit den Daumen unter dem Maul. Auf diese Weise hielt er den Hund für eine Weile ruhig. Gerade so lange, wie er brauchte, um zu beschließen, die ungeschützte Strecke, die ihn von der Hirtentasche zu Füßen des Mannes trennte, zu überwinden.
    Er öffnete seinen Proviantsack und kramte die halbe ihm noch verbliebene Räucherwurst hervor. Anschließend erhob er sich und ließ den Hund dort sitzen, der ganz mit dem Beschnuppern der Fleischstange beschäftigt war, wagte sich aus der Deckung und bewegte sich lautlos auf die Hirtentasche zu. Der Feuerschein warf seinen zitternden Schatten auf die Kakteen hinter ihm. Während er sich langsam anschlich, wurde ihm auf einmal angst und bange, und schon wollte er auf dem Absatz kehrtmachen. Sich an einen sicheren Ort zurückziehen, um in Ruhe den nächsten Morgen abzuwarten und seine Möglichkeiten neu zu überdenken. Doch hinter den Kakteen zerkaute der Hund gerade seinen letzten Vorrat, und er wusste, es gab kein Zurück.
    Er besann sich wieder auf seinen Plan, der so simpel wie bestürzend war. Er würde sich leise an die Hirtentasche heranpirschen, vorsichtig nach dem Riemen greifen und die Tasche ganz langsam näher zu sich ziehen. Er durfte dem Mann nicht ins Gesicht blicken, es wäre nicht nur indiskret, sondern auch riskant. Abgesehen von den Essensvorräten, deren Reste der Hund gerade verputzte, hatte er Erwachsenen noch nie etwas gestohlen, undwenn er das jetzt erneut tat, dann nur, weil ihm keine andere Wahl blieb. Die steinernen Mauern seines Elternhauses diktierten ein uraltes Gesetz, nach dem Kinder, die etwas ausgefressen hatten, den Kopf senken und den Nacken entblößen mussten wie reuige Sühneopfer. Je nach Schwere des Vergehens erhielten sie einen Klaps oder eine gehörige Tracht Prügel. Als er schon fast am Ziel war, kamen ihm erneut Bedenken, ob er die Tasche wirklich an sich nehmen sollte. Er könnte ja einfach an der Feuerstelle warten, bis der Mann erwachte. Dann würde er sich als das zu erkennen geben, was er war: ein hilfloser Junge, von dem nichts zu befürchten war. Mit ein wenig Glück würde der Mann sich als ein Ziegenhirt aus einer Nachbarregion entpuppen, den die Suche nach Resten der letzten Mahd hergeführt hatte. Ans Alleinsein gewöhnt, wäre er vielleicht sogar froh über ein wenig Gesellschaft. Er würde ihm etwas zu essen und zu trinken anbieten und irgendwann würde jeder wieder seines Weges ziehen.
    Plötzlich bemerkte er ein Schnauben in seinem Rücken und erstarrte. Er rührte sich nicht, versank in einem Loch aus Angst, seine Muskeln versagten. Auf einmal war alles weg: der Hirte, die Tasche und die Herde. Vom Dunkel verschluckt, in dem seine Sinne sich auflösten. Er zitterte, sein Magen begann zu rebellieren, und etwas Hartes stieß ihn in die Rippen. Unwillkürlich schaute er hin. Es war der Hund, der ihn mit der Schnauze anstupste, die Wurstschnur zwischen den Zähnen. Er rang nach Luft, suchte am Boden Halt, bis er sich wieder fasste.
    Die Hirtentasche war aus grob gegerbtem Leder. Sieroch nach getrockneter Zwiebel und Schweiß. Mit den Fingerspitzen tastete er nach dem Riemen und zupfte vorsichtig daran. Er merkte, wie schwer sie wog, und vergaß seine Skrupel. In seinem Kopf überschlugen sich die Bilder von allen erdenklichen Köstlichkeiten, und die Realität um ihn herum wurde verdrängt von dem, was sich in der Tasche verbergen könnte. Es gelang ihm, seine Beute fast geräuschlos einige Zentimeter vorzuziehen, bis er in seiner
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