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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition)
Autoren: Jesus Carrasco
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ihm unter diesen Voraussetzungen möglich sein würde zu verzeihen. Ob, nachdem er den eisigen Pol, die finsteren Wälder und andere Wüsten durchwandert hätte, das Feuer, das ihn innerlich verzehrte, noch immer in ihm lodern würde. Vielleicht hätte sich die Gefühlskälte, die ihn aus seinem Elternhaus vertrieben hatte, bis dahin in Luft aufgelöst. Womöglich würden die Entfernung, die Zeit und die ständige Reibung mit der Welt seine rauhen Stellen abschleifen und ihn irgendwann besänftigen. Ihm fiel der Pappglobus ein,der in der Schule stand. Eine große Kugel, genauso breit wie ihr hölzerner Sockel, weshalb sie leicht umfiel. Mit einem Blick war zu erkennen, wo sich die staubige Ebene seiner Heimatregion befand, weil Generationen von Kindern Jahr für Jahr die Stelle, an der das Dorf lag, mit ihren Fingern abgegriffen hatten, bis das gesamte Land und das umliegende Meer weggewischt waren.
    In der Ferne erspähte er etwas, das aussah wie ein Lagerfeuer. Er fragte sich, wie weit es wohl entfernt sein mochte, und hielt inne, um die Distanz abzuschätzen. Doch in dem undurchdringlichen Dunkel, das ihn umgab, war es ihm unmöglich. Er dachte, was er für ein fernes Lagerfeuer hielt, könne ebenso gut ein brennendes Streichholz wenige Meter vor seiner Nase sein oder aber ein ganzes Haus, das einige Kilometer weiter in Flammen stand.
    Wie ein Indianer, betört vom Flittertand, mit dem der Konquistador lockt, zog es ihn zu dem einzigen Lichtpunkt auf der weiten Ebene. Mehr als eine Stunde durchquerte er ein Gelände aus trockenem Lehm und Steinen. Der Wind blies ihm ins Gesicht. Wer auch immer das Lagerfeuer entfacht hatte, würde ihn nicht bemerken. Ohne einen konkreten Plan marschierte er auf den leuchtenden Punkt zu, der geradeso gut das Lager eines Schäfers oder Maultiertreibers sein konnte wie das eines Wegelagerers. Er vertraute darauf, dass ihm das Feuer, sobald er nah genug dran war, weitere Anhaltspunkte geben würde. Der Gedanke, auf einen Räuber zu stoßen, bereitete ihm Angst. Er wusste auch nicht, ob um das Lagerfeuer herum nicht noch ein paar Hunde schliefen.Sicher war nur, dass er den Proviant und das Wasser desjenigen benötigte, der das Feuer angezündet hatte. Ob er darum bitten oder alles heimlich an sich nehmen würde, wollte er entscheiden, wenn er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Er vernahm einen Chor von Glockengeläut, der aus der Richtung der Feuerstelle zu ihm herüberdrang, und das beruhigte ihn ein wenig. Dennoch bemühte er sich auf den letzten Metern um völlige Lautlosigkeit. Er setzte die Füße so behutsam auf, als liefe er über Rosenblätter. Unweit des Lagers fand er eine Hecke aus Feigenkakteen, hinter denen er sich versteckte, um sich umzuschauen.
    Jenseits der Glut schlief ein Mann auf dem Boden. Obwohl er das Gesicht dem Feuer zugewandt hatte, war sein Alter nicht zu erkennen, da er von Kopf bis Fuß in eine Decke gewickelt war. Ein sanfter Schimmer begann wie eine ferne Glut am Horizont aufzuscheinen und enthüllte die Umrisse einer Baumgruppe, die die Nacht verschluckt hatte. Der Junge meinte, die Silhouetten mehrerer Pappeln auszumachen, und vermutete, dass die Herde sich aus denselben Gründen dort befand wie die Bäume. Eine Geiß tauchte aus der dunklen Tiefe auf, huschte hinter dem Hirten vorbei und verschwand wieder in den Kulissen des aufziehenden Morgens. Ihr Glockengeläut hinterließ eine Klanglinie in der Luft wie eine verknotete Saite. Seitlich ruhte ein Esel auf seinen unter der Brust geknickten Vorderbeinen. Ringsum verstreut waren reglos daliegende Ziegenkörper zu erkennen, die bald aufwachen würden. Zu Füßen des Mannes eine Hirtentasche. Eingerollt daneben ein schlafender Hund.
    Im schwachen Feuerschein flackerten die Schatten wie schwarze Flammen. Der Junge schob den Kopf zwischen den Blättern der Pflanzen hervor und versuchte, den Mann grob einzuschätzen. Als er einen Stich im Arm spürte, zog er ihn ruckartig zurück, sodass der Verschluss des Leinensacks leise klickte. Der Hund öffnete die Augen und stellte die Ohren auf. Gleich darauf sprang er hoch und schnupperte nach allen Seiten in die Luft. Der Junge drückte den Arm mit der Hand fest an den Körper, als führte die verräterische Gliedmaße ein Eigenleben und würde sich jeden Moment erneut auf die Stacheln des Feigenkaktus stürzen. Der Hund wurde zusehends munterer, schnüffelte erst im Umkreis des Hirten herum, erweiterte dann seinen Radius und kam der Stelle, an der sich der Junge
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