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Die Feen - Hallmann, M: Feen

Die Feen - Hallmann, M: Feen

Titel: Die Feen - Hallmann, M: Feen
Autoren: Maike Hallmann
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brachte es nicht über sich. Ihr war, als müsste Leslie heimkehren, wenn nur der Stapel genügend zusammenschmolz, als müsste sie auf einmal in der Tür stehen, die Augen verdrehen und sagen: Liebe Güte, Gin, so geht das nicht.
    Auch den Kelpie fütterte sie nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich auf die Suche nach Nahrung machen würde, aber Gin brachte es nicht über sich, in der Morgendämmerung mit einem Eimer voller Schlachtabfälle auf ihn zu warten. Vermutlich hätte er von ihr ohnehin nichts genommen.
    Glen war weihnachtlich verwaist. Oliver und Benny waren über die Ferien nach Hause gefahren. Überall im Dorf brannten Kerzen oder hingen Lichterketten in den Fenstern, hier und da stand eine Krippe mit geschnitzten Hirten, Engeln und Schafen, Tannenzweige zierten die Türen. Nur bei Gin nicht. Die Weihnachtsdekoration war Leslies Aufgabe gewesen. Dieses Jahr war das erste, seit Gin denken konnte oder vielmehr wollte, an dem sie nicht darüber stritten, ob Weihnachten nun ein christliches oder ein heidnisches Fest sei. Nachts lag sie lange wach und lauschte auf Leslies Atem in der stillen Küche.
    Grau hielt sich fern, aber sie wusste, dass er sich manchmal ans Haus heranschlich. So weit er sich eben traute. Dass er manchmal am Ende der Straße stand, dort, wo das Dorf endete, und mit gelben Augen das Haus anstarrte, in dem er so lange zu Hause gewesen war. Die langen Gliedmaßen geduckt, Kopf und Schwanz gesenkt, das Maul halb geöffnet. Sie wusste es, ohne ihn zu sehen, sie spürte seine Gegenwart seit fast vier Wochen. Es zermürbte sie.
    Manchmal stellte sie sich vors Haus und schaute die Straße hinunter, diese seit einigen Tagen so nebelfreie Straße, und wartete, aber dann ließ er sich nicht blicken.
    Der Schutzgeist der MacGregors. Das hatte Leslie angenommen, und Gin hatte es ihr nie ausgeredet. Im Stillen hatte sie es immer besser gewusst, aber manche Erkenntnisse sprach man besser nicht aus, weil sie Unheil anrichteten. Unheil, das jetzt ohnehin geschehen war. In Gin wucherte der Schmerz wie ein Tumor, und er fraß sie nur deshalb nicht auf, weil sie ihn im Zaum hielt, indem sie wartete.
    Sie wartete. Und sie wartete. Heiligabend kam und ging, sie hatte geglaubt, dass Grau Heiligabend kommen würde oder am Morgen danach, aber er tat es nicht, und ihr sank der Mut. Aber sie wartete weiter. Eisern. Ihr blieb ja nichts anderes übrig.
    Als sich Grau endlich herantraute, war das alte Jahr fast vorüber. Aus einigen Fenstern war die Weihnachtsdekoration bereits verschwunden, Glenshee lag kalt und schneefrei da, und der See war ölig schwarz wie immer. Die Nacht war schlimm gewesen, und Gin fühlte sich alt, als sie vor die Tür trat, um die Straße hinunterzusehen. Sehr alt und sehr allein. Außerdem hatte sie einen hartnäckigen Husten.
    Grau stand am Ende der Straße, als hätten sie sich verabredet und sie sei verspätet. Von hier aus war er kaum mehr als ein Schemen. Als sie die Arme vor der Brust verschränkte und ihm entgegenschaute, wurde ihr der Hals eng, und sie biss die Zähne zusammen. Stumm stand sie da und sah zu, wie er nähertrottete.
    Einst, dachte sie, hatte sich zum ersten Mal ein menschlicher Fuß auf den Boden von Glenshee gesenkt. Ein menschlicher Fuß, und vermutlich kurz darauf die Pfote eines Wolfshunds, der ihn begleitete. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie der Nebel im Tal um Füße und Pfoten floss und das Bewusstsein erwachte, dass mit der Ankunft eines Menschen in Glenshee das Ende angebrochen war, vor sehr, sehr langer Zeit. So stellte sie es sich vor. Sie wusste nicht, ob es stimmte. Nur wer Grau war, das wusste sie. Das hatte sie immer gewusst.
    Er kam näher. Den Kopf gesenkt, die Schritte zögernd, Schuldbewusstsein in jeder Bewegung. Nur – wessen Schuld? Wer hatte gezögert, zu Gin zu kommen, weil er sich nicht traute, ihr unter die Augen zu treten? Sie stand da und wusste es nicht, hoffte nur, hoffte, und er kam so schmerzhaft langsam näher, dass sie glaubte, an den aufsteigenden Tränen zu ersticken.
    Endlich war er heran. Blieb stehen, die Augen gesenkt. Einen fürchterlichen Augenblick lang war Gin überzeugt, er sei allein. Aber um es zu wissen, musste sie seine Augen sehen. Seine Augen, in denen Graus Einsamkeit loderte, Trauer, das Wissen um die Vergeblichkeit aller Bemühungen. Vielleicht nur das, nicht mehr. Aber da war die Hoffnung, dass er nicht allein gekommen war.
    »Grau«, sagte sie.
    Er zitterte.
    Sie atmete tief ein. »Leslie?«,
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