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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit
Autoren: Connie Willis
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unterscheiden, Schläfrigkeit – aber er hatte die Glocken gehört, und jeder, der in irgendeiner Form mit Lady Schrapnells Rekonstruktionsprojekt zu tun hatte, litt an Schlafentzug. Der einzige Schlaf, den ich in der letzten Woche gehabt hatte, war der während des Basars am Tag des Heiligen Crispin gewesen, zugunsten der Verteidigung des Landes. Ich war während des Willkommens eingenickt und hatte die Hälfte der Rede verschlafen, in der sich das Organisationskomitee vorstellte.
    Was waren die anderen Symptome? – Eine Tendenz, sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Langsames Antworten. Verschwommene Sicht.
    »Der Stern«, sagte ich. »Wie sieht der Stern denn aus?«
    »Was meinst du damit? Wie soll er aussehen?« fragte Carruthers, nicht im geringsten langsam mit der Antwort. »Wie ein Stern natürlich.«
    Die Glocken verstummten, ihr Echo hing noch eine Weile in der rauchigen Luft.
    »Oder wie sieht deines Erachtens ein Stern aus?« sagte Carruthers und stapfte davon, zu dem Kirchendiener hinüber.
    Reizbarkeit war ein eindeutiges Symptom. Und die Richtlinien des Netzes besagten klar und deutlich, daß jemand, der an der Zeitkrankheit litt, unverzüglich »aus der Umgebung« und vom Dienst entfernt werden mußte, aber wenn ich das tat, hätte ich Lady Schrapnell erklären müssen, weshalb wir uns in Oxford aufhielten und nicht in Coventry.
    Und genau deshalb stöberte ich hier im Schutt herum, weil ich nämlich nicht versuchen mochte zu erklären, warum ich nicht am vierzehnten um fünf Uhr hier vor der Kathedrale gelandet war, wie man es von mir erwartet hatte, und weil es wenig Sinn hatte, von Schlupfverlusten zu sprechen, weil Lady Schrapnell nicht an Schlupfverluste glaubte. Und an die Zeitkrankheit ebensowenig.
    Nein, solange Carruthers noch einigermaßen zusammenhängend sprach, war es besser, hier zu bleiben, des Bischofs Vogeltränke zu finden, und dann erst zurückzukehren, imstande, Lady Schrapnell mitzuteilen, daß sich des Bischofs Vogeltränke tatsächlich während des Angriffs in der Kathedrale befunden hatte, und sich dann in Schlaf fallen zu lassen. Schlaf, der den zerlumpten Ärmel der falschen Uniform flickte, [4] Schlaf, der die rußige Stirn glättete und Gram fernab hielt, der die müde Seele mit heilender, wonniger Ruhe…
    Carruthers kam herbei und sah weder müde noch abgelenkt aus. Ausgezeichnet…
    »Ned!« sagte er. »Hast du mich nicht rufen hören?«
    »Tut mir leid. Ich habe gerade nachgedacht.«
    »Scheint so. Ich rufe dich bereits seit fünf Minuten«, erwiderte er. »Hatte sie Dookie dabei?«
    Entweder hatte ich mich verhört, oder Carruthers’ Symptome waren noch schlimmer als ich dachte. »Dookie?« fragte ich behutsam.
    »Ja, Dookie! Hatte sie Dookie bei sich?«
    O nein, ich mußte ihn nach Oxford zurückbringen, ohne daß der Kirchendiener es merkte, mußte ihn zur Krankenstation bringen und dann versuchen, wieder hierher zurückzukehren, wobei ich sicher mitten in einem Gemüsekürbisfeld irgendwo zwischen Coventry und Liverpool landen würde…
    »Ned, hörst du mich nicht?« Carruthers’ Stimme klang besorgt. »Ich fragte, ob sie Dookie bei sich hatte.«
    »Wer?« fragte ich und überlegte, wie ich es ihm wohl am besten beibrachte, daß er nach Hause geschickt werden mußte. Die Opfer der Zeitkrankheit fühlen sich nie davon befallen. »Lady Schrapnell?«
    »Nein«, erwiderte er ausgesprochen gereizt. »Ihre Majestät. Die Königin. Als sie uns den Auftrag erteilte, hierher zu gehen. ›Ihre schöne, schöne Kathedrale‹ und so weiter.« Er deutete auf den Kirchendiener, der auf uns zustrebte. »Er wollte wissen, ob sie Dookie bei sich hatte, als wir sie sahen, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer das sein soll.«
    Genausowenig wie ich. Dookie… Unwahrscheinlich, daß es ihr Spitzname für den König gewesen sein sollte. Für ihren Tunichtgut von Schwager vielleicht? Nein, Edward hatte bereits 1940 abgedankt, und die Königin nannte ihn überhaupt nichts mehr.
    Möglicherweise der Hund der Königin, überlegte ich, aber das half mir auch nicht besonders. In ihren späteren Jahren als Königinmutter züchtete sie Welsh Corgies, aber was hatte sie während des Zweiten Weltkriegs getan? Yorkshire Terrier? Zwergspaniel? Und wenn ja, welches Geschlecht? Vielleicht war Dookie ihre Zofe. Oder der Spitzname einer der Prinzessinnen?
    Der Kirchendiener hatte uns inzwischen erreicht. »Sie haben nach Dookie gefragt«, sagte ich. »Nein, Dookie war nicht bei Ihrer
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