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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit
Autoren: Connie Willis
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mehr Reste der Schranke, einen einzelnen bronzenen Kerzenhalter und ein angesengtes Gesangbuch, das bei dem Lied: »Preise deinen Namen, alles was lebt«, aufgeschlagen war. Im Umschlag steckte ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
    Ich zog es heraus. Es war die Gottesdienstordnung vom Sonntag, zehnter November. Als ich sie auseinanderfaltete, stoben angeschwärzte Papierteile hoch.
    Blinzelnd versuchte ich in der Dämmerung etwas zu entziffern. Jetzt hätte ich die Taschenlampe des neuen Rekruten brauchen können. »… und rote Nelken auf dem Hochaltar«, las ich, »zur Erinnerung an Fliegerleutnant David Halberstam. Das Kanzelarrangement aus rosa Begonien und das Bukett gelber Chrysanthemen in des Bischofs Vogeltränke wurden vom Blumenausschuß der Frauengemeinschaft gestiftet und arrangiert. Die Vorsitzende, Mrs. Lo…«
    Der Rest der Vorsitzenden war verbrannt, aber zumindest hatte ich hier den Beweis, daß sich des Bischofs Vogeltränke noch vor fünf Tagen in der Kathedrale befunden hatte. Wo war sie also jetzt?
    Ich schaufelte weiter, und der Mond, der in der Nacht zuvor der Luftwaffe so gute Dienste geleistet hatte, tauchte kurz auf und verschwand dann wieder im dunkeltrüben Dunst aus Rauch und Staub.
    Der Teil der Kirche, in dem ich mich befand, mußte auf einen Schlag eingestürzt zu sein, und bald fand ich nichts mehr, was ich allein hätte heben können. Ich hielt nach Carruthers Ausschau, aber er war tief in königliche Themen mit dem Kirchendiener verstrickt und versuchte wahrscheinlich, gleichzeitig ein paar Informationen aus ihm herauszuquetschen. Ich wollte ihn nicht stören.
    »Helfen Sie mir mal!« rief ich statt dessen dem neuen Rekruten zu. Er hockte wie ein Frosch neben Mr. Spivens und sah zu, wie dieser den Tunnel grub. »Hier drüben!« schrie ich und gestikulierte.
    Keiner von beiden schenkte mir irgendeine Beachtung. Mr. Spivens steckte fast gänzlich im Tunnel, und der neue Rekrut fingerte wieder an seiner Taschenlampe herum.
    »Hallo!« schrie ich. »Hierher!« und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Mr. Spivens verschwand, der neue Rekrut beugte sich nach hinten und fiel um, die Taschenlampe ging an, ihr Strahl glitt über den Himmel wie ein Suchscheinwerfer, und ein langes, schwarzes Tier kam aus dem Tunnel geschossen und raste quer über die Trümmer. Eine Katze. Mit lautem Gebell setzte ihr Mr. Spivens nach.
    Ich ging zu der Stelle, wo der neue Rekrut saß und interessiert den beiden Tieren nachstarrte, knipste die Lampe aus, zog ihn hoch und sagte: »Kommen Sie! Helfen Sie mir, diese Balken dort wegzuheben.«
    »Haben Sie die Katze gesehen?« fragte er und schaute hinüber, wo sie unter der Treppe zum hohen Chor verschwunden war. »Es war doch eine Katze, oder? Sie sind kleiner als ich dachte. Ich dachte, sie hätten mehr die Größe eines Wolfes. Und wie flink sie sind! Waren alle so schwarz wie die hier?«
    »Zumindest alle, die in einer ausgebrannten Kathedrale herumkrochen«, sagte ich.
    »Eine richtige Katze!« Er klopfte den Staub aus seiner falschen Hilfsfeuerwehruniform und folgte mir. »Wie aufregend, einem Geschöpf zu begegnen, das seit nahezu vierzig Jahren ausgestorben ist. Noch nie zuvor habe ich eine Katze gesehen.«
    »Packen Sie dieses Ende«, sagte ich und wies auf ein Stück steinerner Dachrinne.
    »Alles ist so aufregend«, sagte er. »Wirklich hier zu sein, hier, wo alles begann.«
    »Oder endete«, entgegnete ich trocken. »Nicht das da! Obendrauf das!«
    Er hob es an, die Knie gestreckt, und schwankte ein bißchen. »Wie aufregend! Lady Schrapnell sagte, an der Kathedrale mitzuarbeiten, sei ein lohnendes Unterfangen, und recht hat sie! Das alles zu sehen und zu wissen, daß es nicht wirklich zerstört wurde, daß es sich in just dieser Minute wieder aus der Asche erhebt, gerettet und wiederhergestellt in seiner ganzen früheren Pracht.«
    Er klang auch nach Zeitkrankheit, hatte sie aber sicher nicht. Sämtliche neuen Rekruten von Lady Schrapnell hörten sich so an.
    »Wie oft sind Sie schon gesprungen?«
    »Das ist mein erstes Mal«, sagte er mit eifrigem Gesicht. »Und ich kann’s immer noch nicht fassen. Wir sind wirklich hier, im Jahre 1940, auf der Suche nach des Bischofs Vogeltränke, und graben einen Schatz der Vergangenheit aus, die Schönheit einer längst vergangenen Epoche.«
    Ich schaute ihn an. »Sie haben sie noch nie gesehen, stimmt’s?«
    »Nein«, erwiderte er, »aber sie muß erstaunlich sein. Sie veränderte nämlich das Leben von
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