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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Torsten Körner
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eine erste und zweite Familie, die sie zusammenhielten, nein, er hatte noch eine dritte Familie, und die war weitaus gefräßiger und unnachgiebiger als sie und bestritt ihnen den Mann, wo es ging: Die Partei. Für diese Familie tat er fast alles, ließ sich in Stücke schneiden und fand sich doch selten so ganz und gar, so ohne Hintergedanken und Reserve von ihr angenommen. Ein Parteivorsitzender wie Brandt wird ja in eine eigentümlich widersprüchliche Rolle gedrängt, denn einerseits ist er selbst Mitglied dieser »großen alten Familie«, andererseits ist er ihr Familientherapeut, der sich um die Parteigesundheit und den familiären Zusammenhalt zu sorgen hat.
    Ist die SPD noch eine Volkspartei? Gibt es noch das Volk? Oder nur Völkchen? Ist die SPD noch eine Familie und wenn ja, welche? Gehört Peter Brandt, der erst seit 1994 ihr Mitglied ist, dazu? Anfang November 2012 fahren wir gemeinsam zu einer Jubilarfeier der SPD Spandau, eine festliche Veranstaltung im Rathaus. Die Genossen sitzen an langen Tischen mit weißen Deckchen, in geordneten Abständen sind Knabberzeug und Getränke verteilt, auf kleinen Kärtchen ist jedem Unterbezirk sein Plätzchen zugewiesen. Hier ehrt man heute Abend Parteimitglieder, die mindestens 25 Jahre in der Partei sind. Viele sind hier 30, 40, ja 50 Jahre dabei. Viele, das wird deutlich, sind wegen Willy Brandt und seinem Motto »Mehr Demokratie wagen« in die Partei eingetreten. Auch Neueintritte werden freundlich begrüßt, das älteste Neumitglied ist 96 Jahre alt und das jüngste, Hendrik, 14 Jahre alt. Doch die Mehrzahl der Parteimitglieder ist über 60. Peter Brandt ist der Ehrengast an diesem Abend, er ist Fleisch von seinem Fleisch, und ein bisschen Kirche und Gottesdienst ist das hier auch, wenn sie singen: »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’«. Peter Brandt, der heute auch solche Weihestunden gelegentlich mitmachen kann, spricht über den 9. November 1918, die sozialdemokratische Revolution von 1918/19.
    Das Publikum lauscht andächtig. Für einen Moment könnte man denken, dort stünde der Vater, die Stirnlocke fällt widerspenstig, der reche Arm gestikuliert. Kräftiger Beifall, einer, der wohl eher eine aufrüttelnde politische Rede und keinen Sachvortrag erwartet hatte, mault trocken: »Der Willy hätte mehr aus dem Thema gemacht!« Peter Brandt ist hier aber nicht als Stellvertreter, Willy-Kopie oder Grüß-Onkel vom Dienst, sondern als thematisch ausgewiesener selbstbewusster Historiker, der eine andere Sprache spricht als sein Vater, der die Partei nicht streicheln muss, sich ihr aber verbunden fühlt. Partei ist, denke ich und sehe auf die singenden Genossen, die sorgfältig befestigten Frisuren und die festlichen Anzüge, Religion, Gottesdienst, Heimat, Familie, Kuschelzone und Kampfgebiet, Interessengemeinschaft, Nostalgiebadewanne, frohe Botschaft, Demokratiegeschütz. Dann ist Pause. Ein Alleinunterhalter an der Orgel spielt zum Schunkeln auf. Peter Alexander »Wenn auch die Jahre vergehen«, Udo Jürgens »Griechischer Wein« und weitere Schlager. Später, als alle Jubilare ausgezeichnet und mit einem Willy-Brandt-Karikaturen-Band beschenkt worden sind, lassen sich die Geehrten mit Peter Brandt fotografieren, er wird gebeten, die Geschenkbände zu signieren.
    Wir fahren dann zusammen mit der S-Bahn nach Hause. Peter Brandt findet es wichtig, sich nicht in den Elfenbeinturm zurückzuziehen, sondern sich hier einzubringen, Geschichte zu vermitteln, politisches Bewusstsein zu bilden und ja, es geht auch auch darum, den Geist des Vaters lebendig zu halten. Wie hieß das Buch, das er gerade zusammen mit Detlef Lehnert geschrieben hat und das dort auf dem Büchertisch lag? »›Mehr Demokratie wagen‹. Geschichte der Sozialdemokratie 1830 – 2010«. Ein Denkmalpfleger ist er nicht, auch jeder missionarische Eifer fehlt ihm, der Vater ist kein gleißender Schatten mehr, eher ein mildes Licht.
    Was verbindet die Brüder mit dem Vater? Was trennt sie? Was haben sie geerbt? Keiner von ihnen ist ein Piff-Paff-Puff-Fabulant, sie sprechen jeder auf seine Weise bedächtig, stockend, tastend. Da ist ein großes Genauigkeitsbemühen, sie halten eher inne als vorzupreschen. Lars versinkt mitunter ins Schweigen, Matthias lässt »Ähms« und »Ähs« wie Mikros in sich versinken, Peter schließt die Augen und stemmt die ersten Worte wie Steine. Sparsame Augenbrauen bei jedem, Grübchen auch vorhanden bei allen und das kleine He-He-He-Gelächter. Bei allen finden
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