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Die Familie ohne Namen

Die Familie ohne Namen

Titel: Die Familie ohne Namen
Autoren: Jules Verne
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Augenblick. Beiden erschien es, als wären sie sozusagen durch die Schmach, welche Bridget und deren Sohn widerfahren war, selbst mit befleckt worden. Niemand hatte mehr als sie gelitten von den Beleidigungen, mit denen die verblendete Menge damals die unglückliche Familie überhäufte, welche noch von der Schande eines Namens verfolgt wurde, den sie längst abgelegt hatte. Und doch, wenn sie an das Verbrechen des Simon Morgaz dachten, an die heldenmüthigen Opfer, welche die traurige That des Verräthers aufs Schaffot geführt hatte, beugten sich Beide vor der Schwere eines Geschicks, welches kein Gerechtigkeitsgefühl ganz aufzuwiegen im Stande war.
    Hier, wo sich tagtäglich die Freunde des Herrn de Vaudreuil zusammenfanden, unterließ übrigens Jeder selbst die geringste Anspielung auf das, was unlängst vorgegangen war. Vincent Hodge hielt sich mit einer seines Charakters völlig würdigen Discretion sehr zurück, da er strengstens Alles zu vermeiden suchte, was gleich einem Tadel der von Clary geoffenbarten Empfindungen hätte erscheinen können. Hatte sie denn nicht ein Recht dazu gehabt, dieses junge muthige Mädchen, gegen häßliche Vorurtheile aufzutreten, welche die Verantwortlichkeit für Schuldige auf noch völlig Unschuldige ausdehnen, welche eine Vererbung der Schande, wie der geistigen oder leiblichen Aehnlichkeit, von den Vätern auf die Kinder anzunehmen geneigt scheinen?
    Wenn Johann, der jetzt ganz allein in der Welt dastand, an diese seine entsetzliche Lage dachte, empörte sich dagegen sein ganzes Sein und Wesen. Daß Joann für sein Vaterland gestorben, daß Bridget der auf ihr lastenden Schmach erlegen war, alles das bildete noch kein Gegengewicht für die Vergangenheit? … Nein, nein!… Und wenn er dann ausrief: »Das ist ungerecht!« so schien die Stimme seines Gewissens zu antworten: »Es ist doch vielleicht nur gerecht!«
    Dann erblickte Johann wieder Clary, wie sie sich den Drohungen jener sinnlosen Rotte, die ihn verfolgte, ungescheut aussetzte. Sie, ja, sie hatte den Muth gehabt, einen Morgaz zu vertheidigen! Sie hatte sich sogar erboten, ihr Leben an das seinige zu knüpfen. Er mußte dieses Opfer jedoch abschlagen, damals und für immer. Und dann irrte er am Ufer des Niagara umher, wie jener Nathaniel Bumpo der Mohikaner, der sich lieber von dessen Cataracten hätte verschlingen lassen, als sich von Mabel Denham zu trennen.
    Während des ganzen 18. December weilte Johann neben der Leiche seiner Mutter und beneidete diese fast um die friedliche Ruhe, die ihr endlich zu Theil geworden war; sein innigster Wunsch wäre es gewesen, sich bald wieder mit der Geliebten zu vereinen. Da erinnerte er sich jedoch ihrer letzten Worte, und daß er nicht das Recht hatte, anders den Tod zu suchen, als in den Reihen der Patrioten. Das war seine Pflicht… er wollte sie erfüllen.
    Als die Nacht gekommen, eine dunkle Nacht, kaum erhellt durch den »Blink« der Schneefläche – eine Art weißliche Widerspieglung, welche man in polaren Gegenden am Himmel wahrnimmt – verließ Johann das Haus, in dem die sterblichen Ueberreste Bridgets lagen. Wenige Schritte davon und unter dem Schutze rauchfrostgeschmückter Bäume, hob er mit seinem großen canadischen Messer ein Grab aus. Hier am Rande des Waldes, über dem undurchdringliche Finsterniß lagerte, konnte ihn Niemand sehen und er wollte auch nicht gesehen werden. Niemand würde wissen, wo Bridget ihre letzte Ruhestätte gefunden – kein Kreuz würde ihr Grab bezeichnen. Wenn Joann in dem unbekannten Winkel des Fort Frontenac der Auferstehung entgegenschlummerte, so deckte seine Mutter wenigstens die Erde Amerikas, die geliebte Erde ihrer Heimat. Johann selbst hoffte im nächsten Kampfe den Tod zu finden, und seine Leiche mußte dann, mit so vielen anderen Dahingerissenen, in den Stromschnellen des Niagara verschwinden.
    Dann würde nichts – nicht einmal eine Erinnerung – mehr übrig sein von dem, was einst die Familie Morgaz gewesen war.
    Als das Grab tief genug erschien, daß für die darin ruhende Todte nichts von den Klauen der Raubthiere zu fürchten war, kehrte Johann nach der Hütte zurück, nahm den Körper Bridgets in die Arme, trug ihn unter die Bäume, drückte einen letzten Abschiedskuß auf die Stirn der geliebten Todten und legte sie, in seinen Mantel aus vaterländischem Stoffe eingehüllt, nieder. Dann bedeckte er sie mit Erde, kniete nieder und betete, bis er mit den Worten schloß:
    »Ruhe in Frieden, Du arme, arme
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