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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Stück weiter warfen Fischer die veralgten Netze auf die Landestege. Der Geruch vom Todeskampf der Fische vermischte sich mit dem von Suhle. Schon machten sich die Fischhändlerinnen ans Abschuppen, Aufschlitzen, Aushöhlen, forderten den Passanten auf, den Fang zu befühlen. In der Luft ein Schwarm Mücken, das Summen von Geschrei und Getöse übertönt. Am Ufer tauchten Wäscherinnen bis zu den Ellbogen Laken und Lumpen ins Wasser, seiften ein, schrubbten, wrangen aus. Sie verbreiteten einen Schaum von undefinierbarer Farbe, der schwerfällig den Fluss hinuntertrieb. Man brachte ihnen Körbe voller Wäsche, die sie mit grimmigem Eifer ins Wasser kippten. Bald flatterte der Stoff im Wind, ans Netz der Trockenleinen gehängt, die überall dort aufgespannt waren, wo sich Gelegenheit bot, einen Knoten zu machen. Die Weiber brüllten. Eines fluchte lauter als das andere, als gälte es, die Stimmbänder auszuspeien. Etwas weiter weg gingen die Schenken auf, die Herbergen entließen ihre nur halb ausgeruhten, aber dafür völlig blanken Gäste. Die Wasserträger, die die Ufer hinauf- und hinunterrannten, versuchten sich dem infernalischen Rhythmus anzupassen, warfen sich ins Wasser, füllten die Eimer, entrissen sich den Fluten, hasteten in Gegenrichtung davon. Die Fährleute zwängten ihre Barken an den Schiffen vorbei. Sie holten die Arbeiter vom anderen Ufer an Bord, schlugen fluchend ihre Ruder ins Wasser, preschten über den Fluss, versuchten das Unvermeidbare zu vermeiden: die Kollision, den Unfall, den Schiffbruch. Nicht selten fiel ein Mann ins Wasser, wurde von der Strömung mitgerissen oder in die Tiefe gezogen. Dann behalf man sich mit Holzstangen. Doch deren Länge und Gewicht machte die Handhabung schwierig, und es kam vor, dass der Pechvogel nicht gerettet wurde, sondern die Stange ihn durchbohrte oder erschlug und er erst recht ertrank.
    Gaspard konnte all diese Einzelheiten, die das Bild der Seine an diesem Sommermorgen bot, nicht zusammenfügen. Der Lärm schlug an seine Ohren, durchbohrte sein Trommelfell. Zögernd ging er auf ein Schiff zu, dessen Laderaum geleert wurde. »Ich suche Arbeit«, rief er einem Matrosen zu. Der Mann drehte sich um, eine Kiste auf der Schulter, die Augen von der Anstrengung blutunterlaufen. »Ich bin tüchtig«, schrie er einem anderen ins gerötete Gesicht, doch dieser betrachtete ihn nur und schüttelte den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass er nichts hörte. Dann verschwand er auf der Brücke. Gaspard ging den Kai entlang und kam zum nächsten Schiff. »Ich stehe Ihnen zu Diensten!«, brüllte er einem Kapitän in den Rücken. »Mach, dass du aus dem Weg kommst!«, antwortete dieser, ohne sich umzudrehen. Da ging Gaspard auf die Gruppe der Wäscherinnen zu, von denen sich zwei gegenseitig an den Haaren zogen und übereinander ins Wasser fielen. Ein paar Frauen schreckten aus der allgemeinen Gleichgültigkeit auf und stürzten sich auf sie, um sie zu trennen. Die jüngere hielt in der rechten Hand ein ganzes Bündel Haare mitsamt Kopfhaut. Das Gesicht der Alten, der es fehlte, war blutüberströmt. »Schlampe, ich rate dir, nicht noch mal meine Wäsche zu klauen!«, brüllte die erste. Gaspard wollte eine der Wäscherinnen ansprechen, als eine Hand ihn zwang, sich umzudrehen. »Dort drüben werden Hände gebraucht, komm mit«, sagte der Mann. Er konnte nicht viel älter sein als Gaspard. Sein zerfurchtes Gesicht gehörte zu einem gedrungenen Körper. Er hatte eine hohe Stirn, große Augen, eine plattgedrückte Nase und ein fliehendes Kinn. Er trug eine Baumwolljacke, ein Leinenhemd und eine Leinenhose, aus der zwei stämmige Beine ragten. Gaspard folgte ihm durch die Menge, blieb ihm dicht auf den Fersen und schloss aus seiner Geschicklichkeit, dass er Pariser sein musste. »Kannst du schwimmen?«, warf der Mann ihm im Gehen zu. Gaspard bejahte, ohne sicher zu sein, ihn richtig verstanden zu haben. Sein Bauch knurrte, er hatte Hunger. Für eine Mahlzeit würde er alles machen, egal, was man ihn fragte.
    Die Sonne erreichte den höchsten Punkt am Himmel und verströmte beharrlich ihre Hitze. Bald waren sie am Fuß der Pont au Change. Der Mann gab einem großen Blonden mit nordischem Körperbau ein Handzeichen. Dieser nickte, der andere ging ans Ufer und stieg in die Seine. Das Wasser erreichte seine Hüfte. Gaspard folgte ihm gedankenlos, seine Füße stießen in zähen Schlamm, das Wasser erfasste das Leder seiner Sandalen, glitt über seine Waden, sein Skrotum zog sich
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