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Die Erwaehlten

Die Erwaehlten

Titel: Die Erwaehlten
Autoren: Scott Westerfeld
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kurz inne, einen Moment fürchtete sie sich. Dann stieß sie sie auf.
    Das hier musste ein Traum sein: Unzählige Diamanten erfüllten die Luft, schwebten über dem nassen, glänzenden Asphalt. Im Abstand von wenigen Zentimetern erstreckten sie sich, so weit Jessica sehen konnte, die Straße hinunter und in den Himmel hinauf. Kleine blaue Juwelen, nicht größer als Tränen.
    Kein Mond war zu sehen. Dichte Wolken hingen immer noch über Bixby, die aber jetzt hart und unbeweglich wie Stein aussahen. Das Licht schien von den Diamanten auszugehen, als ob eine Invasion blauer Glühwürmchen in der Luft erstarrt wäre.
    Jessicas Augen weiteten sich. Es war so schön, so still und wunderbar, dass ihre Furcht sofort verschwand.
    Sie hob eine Hand, um eines von den blauen Juwelen zu berühren. Der kleine Diamant wackelte, dann umhüllte er ihren Finger, kalt und nass. Er verschwand. Zurück blieb nichts als ein bisschen Wasser.
    Da wurde Jessica klar, was der Edelstein gewesen war. Ein Regentropfen! Die schwebenden Edelsteine waren der Regen, der irgendwie reglos in der Luft hing. Nichts bewegte sich auf der Straße oder am Himmel. Um sie herum stand die Zeit still.
    Wie betäubt trat sie in den schwebenden Regen hinaus. Die Tropfen küssten kühl ihr Gesicht und wurden zu Wasser, sobald sie mit ihnen in Berührung kam. Sie schmolzen sofort, sprenkelten ihr Sweatshirt, wenn sie lief, benetzten ihre Hände mit Wasser, das nicht kälter als Septemberregen war. Sie konnte den Duft von frischem Regen riechen, die Ladung der vorherigen Blitze spüren, die gefangene Vitalität des Gewitters, die sie umgab. Ihr Haar kitzelte, Gelächter blubberte in ihr hoch.
    Bloß ihre Füße waren kalt, ihre Schuhe durchnässt. Jessica ging in die Knie, um sich den Gehweg anzusehen. Reglose Wasserspritzer sprenkelten den Beton, wo Regentropfen erstarrt waren, sobald sie am Boden auftrafen. Überall auf der Straße schimmerten die Spritzer, wie in einem Garten aus Eisblumen.
    Ein Regentropfen schwebte direkt vor ihrer Nase. Jessica beugte sich vor, schloss ein Auge und spähte in die kleine, reglose Wasserkugel. Die Häuser an der Straße, der gefangene Himmel, die ganze Welt war da drinnen, auf den Kopf gestellt und zu einem Kreis gebogen, wie in einer Kristallkugel. Dann hatte sie sich wohl zu nahe herangebeugt – der Regentropfen zitterte und kam plötzlich in Bewegung, fiel auf ihre Wange, an der er wie eine kalte Träne hinablief.
    „Ach“, murmelte sie. Alles war erstarrt, bis sie es berührte. Es war, als ob sie einen Bann brechen würde.
    Jessica blieb lächelnd stehen, um sich nach noch mehr Wundern umzusehen.
    Alle Häuser an der Straße schienen zu leuchten, ihre Fenster erstrahlten im blauen Licht. Sie sah zurück zu ihrem eigenen Haus. Das Dach war eine glitzernde Fläche aus Spritzern, und ein regloser Wasserstrahl sprudelte an einer Ecke, wo zwei Dachrinnen aufeinandertrafen. Die Fenster leuchteten schwach, obwohl drinnen nirgendwo Licht gebrannt hatte. Vielleicht waren es nicht nur die Wassertropfen. Die Häuser, die unbeweglichen Wolken dort oben, alles schien in blaues Licht getaucht.
    Wo kommt nur dieses kalte Licht her? ,fragte sie sich. An diesem Traum war mehr dran als erstarrte Zeit.
    Dann sah Jessica, dass sie eine Spur hinterlassen hatte, einen Tunnel im Regen, wo sie den schwebenden Regen befreit hatte. Er hatte Jessicas Umrisse, wie das Loch, das Comicfiguren beim Durchbruch durch eine Wand hinterlassen.
    Sie lachte und fing an zu rennen, streckte die Arme aus, um händeweise nach Regentropfen in der Luft zu greifen, ganz allein in einer Welt aus Diamanten.
     
    Am nächsten Morgen erwachte Jessica Day mit einem Lächeln.
    Der Traum war so schön gewesen, so vollkommen wie die Regentropfen, die in der Luft geschwebt waren. Vielleicht sollte das heißen, dass Bixby doch nicht so unheimlich war.
    Die Sonne schien hell in ihr Zimmer, dazu hörte sie, wie das Wasser von den Bäumen auf das Dach hinuntertropfte. Trotz der Kistenstapel fühlte es sich nach ihrem Zimmer an, endlich. Jessica lag im Bett und genoss das Gefühl der Erleichterung. Nachdem sie Monate gebraucht hatte, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie umziehen würden, Wochen, um sich zu verabschieden, und Tage zum Ein- und Auspacken, kam es ihr endlich so vor, als würde sich der Wirbelsturm legen.
    Jessicas Träume waren normalerweise nicht besonders tiefgründig. Wenn sie wegen eines Tests nervös war, träumte sie Testhöllen-Albträume. Wenn
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