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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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ich den Tag zu verschlafen und die Wagen in der Nacht zu nutzen, wenn es still genug ist, Kohlensäure in einem Glas in der anderen Sitzreihe zu hören, wenn man aus dem Dösen erwachen kann, weil jemand – drei Reihen weiter hinten – eine Orange schält.
    Wenn die Wagenlichter ausgehen, bringt mir ein Schlafwagenschaffner eine Decke. Er stopft sie um meine Schultern wie – wie sonst? – wie eine Mutter.
    Mein Gesicht spiegelt sich im Fenster und ich sehe der traurigen Wahrheit ins Gesicht – dass ich zufällig dann am besten aussehe, wenn niemand da ist, der mich sieht.
    Mit dem Kopf gegen ein kleines Polyesterkissen denke ich: Mütter. Sie bringen ihren Töchtern bei, ihre Fersen mit Bimsstein abzureiben und eine Zitrone vor dem Schneiden in ihrer Schale zu rollen, um den Saft herauszutreiben. Meine Mutter sagte, dass das, was Männer damit meinten, wenn sie einen nach dem Heiraten fragten – außer wenn sie nüchtern wären – sei, dass man in diesem Kleid hübsch aussähe, oder ihnen die Haare so gefielen.
    Hin und wieder versuchten wir, gemeinsam einkaufen zu gehen, versuchten gemeinsam zu backen, versuchten gemeinsam, uns etwas aus einem Selbstmach-Buch beizubringen. Meistens tat ich die Dinge
um
sie
herum
, so wie Krankenschwestern die Laken wechseln, während der Patient im Bett liegt.
    Ich denke an einen bestimmten Weihnachtsmorgen zurück. Zurück an einen Sommerurlaub an einem See. Ich gehe noch weiter zurück, zum Beginn von meiner Mutter und mir. Wenn ich etwas sagen muss, dann kann ich dies sagen – dass als ich geboren wurde, meine Mutter mich trug wie einen Pelz.
    MRS. PRICE sagte mir, ich müsse nicht an ihrer Tür klingeln. Sie sagte, ich könne mich in ihrem Haus aufhalten, wenn Karen nicht zu Hause war, wenn sie noch nicht vom Schwimmverein zurück war. Mrs. Price gab mir Heidelbeerkuchen. Sie fragte mich, was mir besser schmeckte – Heidelbeere oder Pfirsich – als sie ihre wöchentliche Bestellung beim Bäcker aufgab, der im Sommer mit einem stoffüberspannten Lastwagen lieferte.
    Als ich vor Karen für Mrs. Price Partei ergriff, sagte Karen, ich klänge selbst wie eine Mutter.
    MRS. GRIFFIN sang zur Schlafenszeit: »Turn around and you’re two, turn around and you’re four, turn around a whole lot of times, and get your ass out the door.« 1
    MRS. KOGEN öffnete ihren Kühlschrank. Sie sah dann hinein und sagte zu ihren Kindern: »Was soll das
heißen
, es gibt nichts zu essen? Hier ist eine Tomate, eine Zwiebel …«
    MRS. BEAUDRY starrte, wenn die Familie aus dem Yellowstone zurückkehrte und man sie fragte, ob sie denn Bären gesehen hätten, durch einen hindurch und zählte auf: »Vierundvierzig Bären, zweiunddreißig Hirsche, sechsundzwanzig Elche …«, und schloss mit, »und ein Rebhuhn auf einem Birnbaum.« 2
    MRS. STERN sah Deborah und Rita an und sagte, sie habe ihre beiden besten Freundinnen gefunden.
    MRS. SMITH sagte, wenn unsere Schlüpfer zu sehen waren: »Es schneit unten im Süden.«
    MRS. DREW schickte Patty mit dem Ratschlag zur Schulspeisung: »Klopf bei der Sinfonie nie mit den Füßen den Takt.«
    MRS. ROSS erlaubte es Susan, ihre Unterwäsche in einem Fonduetopf aufzubewahren, der mit Estée Lauder eingesprüht war.
    MRS. SNYDER ließ mich sie Noel nennen. Ihr Haar war silbern geworden, als sie jung war, und sie war immer braun gebrannt. Die Männer starrten sie an, wenn sie mit Carol und mir Eisessen ging. Mrs. Snyder nannte die Männer
unsere Lover
; Mrs. Snyder sagte dann zu Carol und mir: »Unsere Lover gucken immer noch.«
    MRS. BRITTON brachte Jill das Küssen bei.
    MRS. NELSON unterzog Schüler SAT-Tests. 3 Sie versuchte, uns die Wichtigkeit hoher Punktzahlen einzuschärfen. Sie spielte sich selbst als Ärztin und maß unseren Puls, unseren Blutdruck und unsere SAT-Punktzahl.
    MRS. LINDEN war schön im Geiste und in Wirklichkeit. Ihr Wunsch, erzählte sie ihrer Tochter, war es, eine schöne Frau zu sein und die Menschen zu überraschen, weil sie eine schöne Frau war, die gütig war.
    MRS. CASE zog sich vor Alice aus. Sie und Alice trugen die Kleider der jeweils anderen.
    MRS. UPTON brachte Kelly Limericks bei:
    Ein sehr alter Mann aus Kalkutta
    Bestrich seine Mandeln mit Butter
,
    Und sein Schnarchen gewann
    Einen öligen Klang
    Statt einen wie Donnergewitter
    MRS. JOHNS streckte, selbst als Danny das Teenageralter erreicht hatte, immer noch ihren Arm vor den Beifahrersitz um Danny zu schützen, wenn das Auto scharf bremste.
    MRS. O’DONNELL hob,
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