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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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zerschmettern wird.
    Im Zimmer meines Vaters sind die Lichter dimmbar. Es gibt Lautsprecher für Musik, die in die Wände eingelassen sind. Im Zimmer meines Vaters lasse ich die Lichter so beinahe aus wie sie sein können, wenn sie noch an sind.
    Am Abend höre ich Nebelhörner von der Bucht. Am Morgen – die Morgenkanone in der Militärbasis am Kopf der Golden Gate. Wenn der Nebel besonders dicht ist, kommt unter dem Duft von Eukalyptus ein Geruch wie nasser Lehm durch das offene Obergeschossfenster, ein Geruch von vollgesogenem Staub, von den Ziegeln im Hof unten.
    Wenn ich im Bett meines Vaters schlafe, schlafe ich auf derselben Seite, auf der meine Mutter immer schlief. Manchmal, wenn die Kanone in der Morgendämmerung losgeht, wache ich auf und finde mich in derselben Haltung wieder, in der meine Mutter starb – auf der Seite liegend, ihren Arm unter dem Kopf hervorgestreckt, als würde sie in einem Pool seitenschwimmen, wobei die Tabletten, die sie geschluckt hatte, sie hinabziehen wie viele Kiesel in ihren Taschen.
    Ich schlafe nicht so ein, dass mein Körper in der gleichen Weise auf dem Bett liegt, wie meine Mutter gefunden wurde. Sie muss etwas sein, in das ich mich hineinbegebe, während ich schlafe. Und doch kann ich nicht sicher sein, dass ich Glied um Glied in der gleichen Position liege. Die Beine meiner Mutter waren, als ich sie sah, vom Laken bedeckt; es ist möglich, das meine Beine gebeugt sind, wo die Beine meiner Mutter gestreckt waren.
    Ab hier hört es hiernach auf, Morgendämmerung zu sein und dumpfe Kanonen und Aufwachen an einem Morgen eukalyptusduftenden Nebels.
    Ab hier bedeutet ein Tod etwas anderes für jemand anderen. Denn während ich sanft ruhe, gibt es jemanden, der Hilfe braucht, um einschlafen zu können.
    Meine Großmutter und ich können beide keine Tabletten mit Wasser schlucken. Als ich klein war und meine Großmutter zu Hause besuchte, zerdrückte sie meine Vitamine und mein Aspirin in einen Teelöffel Apfelmus oder Marmelade. Später verlegten meine Großmutter und ich uns auf Beeren für die kleineren Tabletten und zerdrückte Banane für Kapseln. Gemeinsam entdeckten wir, dass es mit Trauben auch gut ging.
    Seit ihre Tochter gestorben ist, spült meine Großmutter zur Schlafenszeit Beeren ab. Morgens schält sie Bananen. Sie sagt, es sei nicht genug, dass eine Tablette ihr hilft, die Nacht durchzuschlafen – irgendwie muss sie durch den Tag kommen.
    Und jetzt kauft sie sich Kisten mit Dörrpflaumen und füllt diese mit einem Liter kochenden Wassers in Einmachgläser. Weil die Tabletten, die am Tag ihre Stimmung heben sollen, eine Nebenwirkung haben – diejenige, für deren Heilung man eine Kiste Dörrpflaumen aufmacht und sie in kochendem Wasser weich werden lässt.
    Meine Großmutter schläft unter einem Porträt ihrer Tochter.
    Wenig Zeit ist vergangen und ihre Stimme hat an Gewicht verloren. Sie spricht so schnell, dass ihre Gedanken beim Einholen atemlos werden.
    »Wie heißt das Wort, das ich brauche?«, sagt sie, weil das Wort, das meiner Großmutter fehlt, durch die Behandlungen – acht in zwei Wochen – von ihrer Zunge gezogen und aus ihrem Kopf getragen wurde.
    Sie sagt, die Behandlungen hätten sie wirr zurückgelassen; sie kann sich nicht an den Namen der Schwester erinnern, dabei hat jedes Mal die gleiche Schwester sie auf die Behandlung vorbereitet.
    Als meine Großmutter anruft, stehen die Tatsachen fest. Sie spricht nicht über etwas, solange es nicht getan ist.
    »Liebes, kannst du mir helfen?«, sagt meine Großmutter. »Hilf mir, mich an die schönen Momente mit deiner Mutter zu erinnern.«
    Meine Mutter sagte: »Was?«
    Ich sagte: »Ich hab es vergessen. Ich habe vergessen, was ich sagen wollte.«
    »Dann muss es eine Lüge gewesen sein«, sagte meine Mutter.
    Von Kalifornien in den Mittleren Westen braucht man achtundvierzig Stunden mit dem Zug. Und wer weiß nicht, dass man in achtundvierzig Stunden in einem Zug, vielleicht nach nur vier, den extrovertierten jungen Mann mit Gitarre trifft, der den Speisewagen für spontane Gesangseinlagen an sich reißt. Man steht an für Snacks, hinter guter Kleidung an üblen Körpern, hinter dem Mann, der so betrunken ist, dass er seine Schuhe verloren hat, und so streitlustig, dass niemand ihm helfen möchte, sie zu suchen.
    Eine Sache, von der man nicht denken würde, dass es gut ist, ist – Orangensaft aus der Dose. Im Zug schmeckt Dosenorangensaft, über Eis gegossen, gut.
    Im Lake Shore Limited versuche
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