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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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einem felsigen Ort herumschlitterten, den die Führer als nationalen Stativwald bezeichneten.
    Es wurde ein Abenteuer, sagte mein Vater, in dieser Nacht überhaupt irgendetwas zu sehen.
    Und dann hatte einer der Astronomen auf einen Tennisball am Himmel gezeigt, südöstlich des roten Antares und neben dem Sternbild Skorpion. Er erklärte, dass der Schweif von der Rotation des Körpers in Relation zum Mond abhinge. Folglich, sagte er, würde man an diesem Abend keinen Schweif sehen, nur eine schwach rosafarbene verschwommene Wolke wie ein Büschel Zuckerwatte.
    Allein in ihrer Kabine, sah meine Mutter durch ein Bullauge nichts.
    Mit annähernd dem gleichen Schwierigkeitsgrad wiederholten jene Passagiere, die besonders motiviert waren, die mitternächtliche Exkursion an der Mündung des Amazonas an der Nordwestküste von Belém, diesmal aber mit dem Bus.
    Mit den Taschen voller Souvenirs aus Voodoo-Amuletten und Krokodilszähnen kamen die Experten überein – es war die undeutlichste Sichtung des Sternengastes seit zweitausend Jahren, ganz gleich wo auf der Welt.
    Aber ratet mal, wer für einen zweiten Blick loszog!
    Man kann genauso gut alles tun, was einem möglich ist, argumentierte mein Vater. »Wenn man in südlichen Breiten ist«, sagte er, und bestückte seine Kamera mit 1000 ASA.
    Am Ende der Reise flog ein Charterflugzeug meine Eltern nach Hause.
    Als sein Film entwickelt war, reichte mein Vater Umschläge herum, die Fotografien des Äquatorhimmels enthielten. Er legte den Finger auf den winzigen Punkt, der der ganze Zweck der Reise gewesen war.
    Weder meine Mutter noch mein Vater schienen darüber enttäuscht, dass die Sichtung nicht mehr gewesen war, als sie war. Sagte mein Vater je: Was ist das für eine Schwachsinnsveranstaltung? Und sagte meine Mutter einmal, in Hinblick auf seine Bilder: Welches von diesen Staubkörnern ist jetzt der Komet?
    Meine Mutter gab sich mit diesem Gedanken zufrieden: dass die Tabletten, die ihr beinahe das Leben genommen hatten, es vielleicht
gerettet
hatten, indem sie sie davon abhielten, die Inkarnation ihres Verderbens zu sehen.
    Der letzte Umschlag enthielt Bilder der Kapitänsgäste beim Abendessen am letzten Abend: meine Mutter, den Arm um den leeren Stuhl meines Vaters gelegt, und zwei ältere Ehepaare, die versprochen hatten, in Kontakt zu bleiben.
    Dann gab es Bilder von einer lächelnden griechischen Besatzung, mehrere Standardansichten des Hafens in Martinique und eine gelungene Nahaufnahme von einem etwa fünf Jahre alten Jungen.
    Meine Mutter sagte, sie habe ein Bild von der einzigen Person an Bord des Schiffes gewollt, die noch einmal Gelegenheit bekommen würde, die himmlische Erscheinung zu grüßen.

DAS ZENTRUM
    Zum Preis einer Tasse Kaffee am Tag adoptierte meine Freundin Deborah ein Kind. Sie adoptierte eins der Kinder auf Kanal 5. Nur ist, glaube ich, das Wort, das sie auf Kanal 5 verwenden
Pate
. Sie wurde Pate von einem der Kinder von Sally Struthers, oder vielleicht war es auch eins von Linda Evans’ Kindern. 1 Vielleicht sind das die gleichen Kinder. Jedenfalls war es ein Kind, das meine Freundin Deborah spät nachts beworben sah.
    Laut des Profils, das meiner Freundin Deborah von der Agentur aus Übersee geschickt wurde, hatte das Kind zwei lebende Eltern. Beide Eltern hatten Jobs. Auf dem Foto erschien das Kind gesund, gut genährt und gut – fast modisch – gekleidet. Der Bericht, den die Agentur beifügte, besagte, dass Deborahs Patenschaft das Kind mit dringend benötigten Materialien für die Schule versorgen würde.
    Meine Freundin Deborah dachte: Schulmaterialien?
    Sie rief die gebührenfreie Vierundzwanzigstundennummer der Agentur an. Sie bat darum, ihr »Tasse-Kaffee-am-Tag«-Geld auf ein Kind umzubuchen, das nicht so gut dran war wie jenes Kind. Die Agentur entsprach ihrem Wunsch und bot meiner Freundin Deborah ein neues Kind an, dessen Bedürftigkeit nach Nahrung und Medizin die Bedürftigkeit nach Stiften und Büchern überbot.
    Deborah ermunterte ihre beiden eigenen Kinder dazu, Briefe an das neue Kind zu schreiben, an den Übersetzer, der zwischen ihnen und dem neuen Kind und dem neuen Kind und ihnen hin und her übersetzte.
    Nach einiger Zeit hörten die Briefe des neuen Kinds auf. Besorgt stellte meine Freundin Deborah Erkundigungen an. Die Agentur antwortete, dass das neue Kind nicht gerne ins Zentrum komme. Aber meine Freundin Deborah glaubt, dass dahinter mehr stecken muss. Das Zentrum?
    Also fragte ich meine Freundin Deborah:
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