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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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und für das kämpfen, was mir gehört.«
    Es wurde nach Dr. Bob gerufen, er möge doch bitte eine Gesangsrunde beginnen. Dr. Bob protestierte. »Ich könnte einen Ton nicht mal halten, wenn er Henkel hätte«, sagte er.
    »Dann kommen Sie her ans Feuer und erzählen sie den Kindern eine Gruselgeschichte«, schlug Dave vor.
    »Ich will niemandem Angst einjagen«, sagte Dr. Bob.
    »Haben Sie schon!«, sagte Will, und die anderen Kinder kreischten ihre Zustimmung.
    Dr. Bob war so eine Art medizinischer Erfinder, den wir alle sehr schätzten, obwohl wir nicht genau sagen konnten, was er eigentlich erfunden hatte. Er war derjenige, der sich zwei Sommer zuvor um Fay gekümmert hatte, nachdem ihr Pferd sie in einen Graben geworfen hatte, als es vor einem Schirm über einem Gemüsestand am Straßenrand scheute.
    Fay hatte nur über Kopfschmerzen geklagt, wo ihr Kopf auf die Erde aufgeschlagen war, aber Dr. Bob wusste, dass man sie schnell einliefern musste. In seinem Auto hatte Fay angefangen zu schielen. Nach ihrem Namen gefragt, nannte Fay ihren Mädchennamen. Als sie im Krankenhaus ankamen, war Fays Sprache auf Töne reduziert – die Töne von Krähen und Eulen.
    Wo man auch hinsah, konnte man Lektionen lernen, was nicht heißen soll, dass diese Lektionen auch gelernt wurden. Man denke nur an den Sohn der Henkins, Bill, der betrunken eine Party verließ und erst feststellte, dass er seine Brille vergessen hatte, als er aus der Einfahrt gefahren und unterwegs zur Schnellstraße nach Hause war. Anstatt wegen seiner Brille umzukehren, erklärte er später, sei er besonders schnell nach Hause gefahren, sodass er dort sein würde, bevor er einen Unfall baute.
    Das war etwas, an das ich mich erinnerte, als Caitlin uns von den übrigen Vorhersagen des Hellsehers erzählte. Er hatte gesagt, dass Caitlin als Fuchs von einem rasenden Auto auf der Straße zum Strand erfasst und getötet worden sei. Caitlin fragt sich nun: Was wäre, wenn s
ie
einen Fuchs anfahren würde?
    Da sagte Dave: »Erinnert ihr euch an den Hirsch?«
    »Mensch, Dave«, sagte Fay und stand auf und lief in die dunkle Richtung des Meeres.
    Dave ließ das Thema fallen, aber allen war die Geschichte so lebendig vor Augen, als ob
wir
es gewesen wären, die den Hirsch angefahren hätten und dann am Straßenrand gekniet hatten und den sterbenden Kopf des Hirsches in unserem Schoß gehalten hätten, und mit einer Hand die Augen beschirmt hatten, die bei jedem Paar vorüberfahrender Scheinwerfer blinzelten, um dem Tier jenes winzige Maß an Linderung zu spenden, bis ein Staatspolizist mit einer Schusswaffe auftauchen würde.
    In der Stille, die sie als beklemmend empfunden haben musste, sprang Jeff Taylors Date auf und fing an, unsere leeren Cola- und Bierdosen einzusammeln und sie in eine Plastikmülltüte zu stopfen.
    Dann hörten wir Fay nach Dave rufen, er solle sich beeilen. Dave warf seinen Pappteller ins Feuer und wir
alle
rannten los in Richtung Ufer.
    Wir fanden Fay in der Brandung stehend, sie musterte eine seltene Phosphoreszenz in der Flut. Sie machte einen Schritt und verteilte Funken, bückte sich dann und bewegte unter Wasser ihre flachen Hände wie ein Bergarbeiter an einer wässrigen Mutterader, wusch Gold mit den Händen. Wir sahen zu, wie Dave in die glimmende Untiefe lief und seine Frau von hinten umfasste. Wie sahen zu, wie sie beide umkippten, sodass sie auf dem felsigen Grund saßen. Als ein streunender Hund vom Strand hineinlief, um sich zu ihnen zu gesellen, konnten wir – Phosphoreszenz haftete an seinem Fell – die Umrisse seiner Beine sehen, wie sie unter Wasser paddelten. Als Dave und Fay wieder aufstanden, sich aneinander festhielten, war die plötzliche Phosphoreszenz verschwunden.
    Was vom Sommer übrig war, ging ruhig vorüber, wie in Achtung vor jener Nacht als einer zu dem Ende des Sommers passenden. Es war eine Zeit, in der der einzige Schmerz von Bienen herrührte, und man eine Linderung – dreierlei Kräuter, zusammengepresst und auf dem Stich verrieben – direkt im eigenen Garten finden konnte.

ANMERKUNGEN
Zu Anbruch des Tages
    Originaltitel:
Daylight Come
, vgl. die Zeile »Daylight come and me wan’ go home« aus dem Lied «Day-O« (auch bekannt als «Banana Boat Song«), ein altes jamaikanisches Arbeitslied, in dem Hafenarbeiter bei Tagesanbruch das Ende einer Nachtschicht besingen und warten, dass der Vorarbeiter die von ihnen verladenen Bananen zählt und ihren Lohn auszahlt (»Come Mister tallyman, tally me
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