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Die elfte Jungfrau

Titel: Die elfte Jungfrau
Autoren: Andrea Schacht
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ordentlicher Schrift auf ihre Tafeln übertragen, aber kaum hatte die Begine die Tür hinter sich zugezogen, ruhten die Griffel, und das Getuschel begann. Alle schwatzten, bis auf Lissa, die bedächtig ihre Buchstaben weitermalte.
    Die Mädchen waren zwischen acht und vierzehn Jahren alt und stammten durchweg aus schlichten Familien. Ihre Mütter waren Lohnwäscherinnen oder Ballenbinderinnen, Rheinschifferinnen oder Siebmacherinnen, und manche gingen auch weniger ehrbaren Gewerben nach, um ihren Unterhalt zu erwirtschaften. Die Beginen hatten sie, mit einiger Mühe zum Teil, überredet, ihre Töchter täglich für einige Stunden in ihre Obhut zu geben, damit sie schreiben, lesen und ein wenig rechnen lernten und, wenn sie wollten, auch spinnen, weben, sticken und nähen. Diese Fähigkeiten brachten zwar nicht mehr Geld ein, was der hauptsächliche Einwand der Eltern war, die auf jedes mitarbeitende Familienmitglied angewiesen waren, aber inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass die bei den Beginen ausgebildeten Mädchen bei den besseren Handwerkern hoch im Kurs stünden. Ein Eheweib, das rechnen und schreiben konnte, war ein größerer Gewinn für das Geschäft als eines, das eine kleine Mitgift einbrachte oder gar nur ein niedliches Gesicht hatte.
    Almut, die in ihrer Kammer über dem Unterrichtsraum am Tisch saß und das helle Tageslicht nutzte, um für die Meisterin die Eintragungen über die Einnahmen der vergangenen Woche auf der Pergamentrolle vorzunehmen, hörte das Kichern und Quieken der Schülerinnen und lächelte darüber. Sie gönnte ihnen die kleine Pause gerne. Doch als ein zorniges Aufschreien sich unter die Laute mischte, stand sie auf und ging die Treppe hinunter, um nach dem Rechten zu sehen.
    Ein mageres blondes Mädchen hielt seine Tafel fest umklammert und schniefte.
    »Was ist hier vorgefallen?«, wollte Almut mit strenger Stimme wissen.
    Betreten schauten die Sünderinnen auf den Boden, und Pitter schaffte es mit Erfolg, ein Teil der Einrichtung zu werden. Bertram starrte auf die Katze, die es sich auf seinen Knien gemütlich gemacht hatte.
    »Lissa?«
    Die Schnupfende schüttelte den Kopf, obwohl sie vermutlich die Leidtragende war.
    Es war die kleine Stine, die schließlich den Mund aufmachte.
    »Die Fidgin hat gesagt, die Lissa übt so schön Buchstabenmalen, weil sie ihrem Verehrer Briefe schreiben muss. Weil sie doch sonst: ›Mein ßüßer Liebßter!‹, lispeln muss. Und da hat die Lissa der Fidgin an den Haaren gerissen.«
    »Stine, du alte Petze!«, fauchte die Fidgin, ein kräftiges Mädchen mit gezaustem Gefieder, und machte Anstalten, der Kleineren ebenfalls ein paar Strähnen auszureißen.
    »Schluss mit der Streiterei!«, fuhr Almut dazwischen. Kritisch betrachtete sie Lissas vom Weinen verquollenes Gesicht. »Hast du mit den Jungen herumgetändelt?«
    Stumm, aber heftig schüttelte die Angesprochene den Kopf.
    »Die kriegt doch nie einen ab, wo sie den Mund nicht aufmacht«, höhnte Fidgin wieder, und Mia, die neben ihr saß, trat ihr ans Schienbein.
    »Ist auch besser so, die Jungs sind sowieso alle fies!«
    »Das sagst du nur, weil der Alfi dich sitzen gelassen hat!«
    »Hat er gar nicht!«
    »Hat er wohl. Er ist mit Fassbenders Elli einig geworden.«
    Der Zank wollte sich schon weiter steigern, doch Mia brach plötzlich ebenfalls in Tränen aus. Almut, die sich ein wenig hilflos inmitten von Herzschmerz und Salzwasser fühlte, schickte ein Stoßgebet an Maria, um von ihr Sanftmut und Geduld zu erflehen. Die barmherzige Mutter half ihr in ihrer unendlichen Güte, indem sie den Blick ihrer demütigen Tochter auf Pitter lenkte, der grimassenschneidend an der Wand lehnte, die Augen zum Himmel verdrehte und lautlos »Weiber!« stöhnte. Über seine Qualen musste sie plötzlich grinsen und hielt die derben Zurechtweisungen zurück, die sich ihr auf die Lippen drängen wollten. Stattdessen mahnte sie: »Liebeskummer kann sehr schmerzlich sein, Fidgin. Lass Mia in Ruhe.«
    »Schon gut. Aber sie jammert die ganzen Tage und erzählt, sie will ins Wasser gehen!«, murrte die milde Gerügte.
    »Ja, wie die Marie, die Lehrtochter der Seidweberin. Die hat der Alfi auch sitzen lassen!«
    Dieses beklemmende Detail hatte Ines beizusteuern. »Die hat der Fährmann am Drankgassentor herausgefischt! Letztes Jahr, im September! Der hatten die Fische schon die Augen rausgefressen.«
    Ein kollektiver Laut des Ekels war zu hören. Dann aber protestierte Mia noch einmal heftig: »Der Alfi hatte
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