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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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mich, der die echten Papiere für Tatjana Wladimirownas Wohnung verschaffte und die alte Dame bei Laune hielt. Sie müssen sich gesagt haben, dass es die ganze Sache echt aussehen ließ, wenn sie ihr die fünfzigtausend gaben.
    Ich glaube, der einzige Ort, den ich noch hätte aufsuchen können, aber wohin ich nicht ging, das war die Datscha, die, von der es geheißen hatte, sie gehöre einem alten Mann, einem ehemaligen Eisenbahnarbeiter – die mit der schrankgroßen
banja
und dem magischen Schlafzimmer auf dem Dachboden, jene Hütte, in der ich herausgefunden hatte, dass Mascha und Katja keine Schwestern waren. Irgendwie aber war mir der Ort zu heilig, eine Erinnerung, die ich mir gefroren im Wintereis bewahren, nicht durch Sommerschweiß und Enttäuschung verderben wollte. Das ginge einfach zu weit. Du denkst sicher, ich hätte mich an die Polizei wenden sollen, hätte es tun müssen. Ich kann beinahe spüren, dass du das denkst. Aber was hätte ich schon sagen können? Was war denn passiert? Eine Frau hatte ihre Wohnung verkauft. Zwei junge Frauen waren fortgezogen. Nichts war passiert. Und an all dem, was geschehen war, hatte ich meinen Anteil gehabt.
    Es gab einen Moment in jenen wenigen Tagen der Suche, da meinte ich, Tatjana Wladimirowna entdeckt zu haben; vielleicht wollte ich es auch nur glauben oder redete es mir ein. Es war auf der Twerskaja, am unteren Ende des Roten Platzes. Ich war unterwegs zu einem sorgenvollen Mittagessen mit Paolo im Sommercafé auf der Terrasse vor dem Konservatorium und meinte, ich hätte ihre Kugelstoßergestalt erkannt, ihren martialischen Schritt – langsam, aber fest entschlossen wie eine vorrückende Armee – ihre Mir-doch-egal-Frisur, und das knapp fünfzig Meter vor mir auf dem Gehweg. Nur drängten sich Leute auf dem Gehweg; Touristenscharen umlagerten einen Stand, der Lenin-T-Shirts verkaufte und Stalinpuppen. Es war wie in einem jener Träume, in denen man läuft und läuft und dennoch nicht vorwärtszukommen scheint. Als ich zu der Ecke kam, an der das Zentrale Telegrafenamt steht, hatte ich sie verloren. Ich blickte über den Rand der halbhohen Mauer auf die Stufen hinab in die Unterführung. Ich folgte der Twerskaja bis zum Levis-Laden. Die alte Frau blieb verschwunden.
    Gut möglich, dass sie es war – ich behaupte nicht, dass sie es nicht war. Sie hätte es sein können. Vielleicht spaziert sie auch heute noch durch Moskau oder Sankt Petersburg, mit fünfzigtausend Dollar in der Plastiktüte und einem Babylächeln im Gesicht. Vielleicht haben sie es dabei belassen. Schließlich hatten sie ihre Wohnung, und Tatjana Wladimirowna hätte sie nie zurückerhalten. Dank Olga waren sämtliche Papiere in Ordnung. Es gab nichts, was die alte Tatjana Wladimirowna hätte tun können, niemand, bei dem sie sich beklagen konnte. Höchstens bei mir. Sie hätte gewusst, wo ich zu finden war, wenn sie mich gesucht hätte.
    Aber sie kam nie, und ich bezweifle, dass es ihnen gefiele, wenn Tatjana Wladimirowna auf dem Gehweg stünde und für Ärger sorgte oder das Geld ausgäbe, das ebenso gut ihnen gehören könnte. ›Kein Mensch, kein Problem‹ lautet ein altes russisches Sprichwort, und ich schätze, sie werden sich schon darum gekümmert haben, dass es keine Probleme gab. Auch ohne Schnee wäre das nicht schwierig gewesen. So wird es gewesen sein, denke ich, auch wenn ich es mit Bestimmtheit nie erfahren sollte.
    Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Tatjana Wladimirowna selbst damit gerechnet hat, nach Butowo zu ziehen, nicht in ihrem tiefsten Innern. Vielleicht hat sie ja nie erwartet, jemals im Wald Pilze zu pflücken, im Teich zu schwimmen, ihren Geschirrspüler laufen zu lassen und von ihrem neuen Balkon auf die Kirchkuppeln schauen zu können. Ich bin mir nicht sicher, was sie genau erwartet hat, doch fange ich an zu glauben, dass alle von vornherein mehr gewusst haben als ich, Tatjana Wladimirowna ebenso wie Mascha und Katja. Dass sie es mir vorenthalten haben, wie man einem Kind ein schmutziges Geheimnis vorenthält, bis es sich schließlich nicht länger verschweigen ließ. Manchmal denke ich, es habe von Beginn an auf bizarre Weise eine Verschwörung gegen mich gegeben.
    Vielleicht auch nicht. Vielleicht – nein, wahrscheinlich, ich will so ehrlich wie nur möglich sein – war es eine Verschwörung gegen mich, um mich vor der Wahrheit zu schützen. Und die Wahrheit wäre, dass ich irgendwo eine Grenze überschritten hatte, in einem Augenblick im Restaurant,
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