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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Bürgschaft. Wenn die Bank
zahlen musste, konnte er seinen Hut nehmen. Die Sache hatte
nämlich weitreichende Konsequenzen, weil man große
Hoffnungen auf das potentielle Bergwerk in Grönland setzte.
Man rechnete damit, dass es von Island aus versorgt würde,
denn der nächstliegende Ort mit Flughafen war
Ísafjörður. Dadurch würden direkt und indirekt
Arbeitsplätze geschaffen. Die Anfangsschwierigkeiten hatten
jedoch nicht dazu beigetragen, das Vertrauen des Großkonzerns
zu gewinnen. Der junge Mann war recht entgegenkommend, und
Dóra war sehr froh, dass er die Polizei über den Stand
der Dinge informiert und dazu aufgefordert hatte, die
grönländischen Behörden einzuschalten. Nur hatten
die Interessen der Bank bei den Behörden keine Priorität
– geschweige denn bei der grönländischen Polizei.
Ziel der Reise war es, die Lage zu sondieren und den Schaden zu
begrenzen, falls es hart auf hart käme und der Vertrag mit
Bergtækni aufgelöst werden musste. Die Ausrüstung
des Bauunternehmens musste gesichtet und der Stand der
Probebohrungen beurteilt werden, damit die Bank gegebenenfalls eine
andere Firma einschalten oder die Bergtækni-Mitarbeiter davon
überzeugen konnte, ins Camp zurückzufahren. Im Team war
Panik ausgebrochen, und die legte sich meist, wenn die Vernunft
erst einmal wieder Oberhand gewann. Falls vor Ort wirklich etwas
Ungewöhnliches vorgefallen war, mussten entsprechende Hinweise
gesammelt werden. Das würde der Bank später helfen, zu
beweisen, dass es sich um außergewöhnliche Umstände
gehandelt hatte. Höhere
Gewalt.         
    Der Begriff ließ
Dóra aufhorchen. Höhere Gewalt bedeutete, dass die
Vertragspartner von ihren Pflichten befreit werden konnten, da sie
ihren Auftrag aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse nicht
ausführen konnten. Dóra wusste sehr gut, dass in
Grönland kein Krieg tobte, und von Naturkatastrophen oder
Streiks hatte sie auch nichts gehört. Aber Verbrechen konnten
als Höhere Gewalt gelten, was in Anbetracht des Films durchaus
zutreffend sein könnte. Womöglich eine ziemlich spannende
juristische Auslegungssache. War das nicht genau das, was sich
Dóra am Morgen noch gewünscht hatte? Ein
anspruchsvoller Auftrag, bei dem nicht die Gefahr bestand, dass sie
ihrem Mandanten während der Sprechstunde aus Wut einen
Bleistift an den Kopf warf.
    »Ich komme mit,
Matthias!« 
    »Welche Farbe haben
Grönländer?«, fragte Sóley gähnend. Sie
lag im Bett und hätte schon längst schlafen sollen, aber
wegen Dóras bevorstehender Reise nahmen sie es mit der
Zubettgehzeit nicht so genau. Dóra küsste ihre Tochter
auf den blonden Schopf.
    »Genau dieselbe wie wir,
Schatz. Jedenfalls nicht grün, falls du das
denkst.«
    »Mama!«, sagte
Sóley beleidigt. »Das weiß ich doch! Ich meine,
ob sie gelb sind wie Chinesen.«
    »Chinesen sind genauso
wenig gelb, wie die Konservativen blau sind«, sagte
Dóra und strich über die rosa Bettdecke.
    »Was?« Sóley
kannte sich mit Politik auch nicht besser aus als andere
Achtjährige.
    Dóra lächelte sie
nur an. »Du bleibst brav bei Papa, während ich weg bin,
versprochen?«
    »Ja, wenn du mir was
Schönes mitbringst«, antwortete Sóley grinsend.
»Und was Süßes!«
    »Ich bringe dir was mit.
Vielleicht einen kleinen Eisbären.«
    »Oh, ja!«, rief
Sóley aufgeregt. »Einen echten!«
    »Ich meinte eigentlich so
einen«, sagte Dóra und tätschelte einen der
vielen Teddybären, die auf dem Bett lagen. »Es ist schon
spät. Du musst jetzt wirklich schlafen.«
    »Einen Hund«,
bettelte Sóley und griff nach der Hand ihrer Mutter, die aus
alter Gewohnheit den Kopf schüttelte. Sóley quengelte
mindestens einmal am Tag, sie wolle einen Hund oder eine Katze
haben. »Warum denn nicht? Gylfi hat ein Baby bekommen –
warum darf ich dann nicht einen Hund oder eine
Katze?«
    »Gute Nacht.«
Dóra erhob sich vom Bettrand. »Morgen früh stehen
wir zusammen auf, du gehst in die Schule und ich zum Flughafen.
Wenn du bei Papa bist, versuche ich, dich anzurufen, aber ich kann
dir nicht versprechen, dass es klappt. Es gibt Telefone in
Grönland, aber ich weiß nicht, ob sie da, wo ich
hinfahre, funktionieren.«
    Nachdem Dóra das Licht in
dem rosafarbenen Zimmer ausgeschaltet und einen Moment die
zahlreichen schimmernden Teddyaugen betrachtet hatte, ging sie in
die Garage. Matthias hatte ihr empfohlen, einen Rucksack
mitzunehmen, aber sie besaß keinen – ein Koffer
würde es auch tun. Viel schwieriger war es, zu entscheiden,
was
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