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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition)
Autoren: Matthias Gereon
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mitgenommen?«
    »Ich glaube zwei Jeans, Pullis und T-Shirts«, sagte die Mutter.
    »Können Sie mir eine Liste machen?«, fragte Linda. »Und den Laptop würde ich gerne mitnehmen, wenn Sie einverstanden sind. Vielleicht finden wir ja ein paar Mails, die uns mehr verraten.«
    Frau Schön nickte.
    »Was ist hinter dieser Tür?«
    »Vanessa hat ein eigenes Bad.«
    »Darf ich?«
    Frau Schön nickte erneut, und Linda betrat das Bad. Als sie die Haarbürste sah, die auf dem Waschbecken lag, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Mechanisch zog sie die blonden Haare aus der Bürste und packte sie in ein Plastiktütchen. Ein Handgriff, der ganz automatisch geschah. Spuren entdecken, Spuren eintüten, Spuren auswerten. Die Zahnbürste, die in einem Glas auf dem Waschbecken stand, nahm sie ebenfalls mit.
    »Ich werde mich um die Ermittlungen kümmern«, sagte sie zu Frau Schön, als sie wieder aus dem Badezimmer kam. Sie erwähnte weder die Haare noch die Zahnbürste. Warum sollte sie die Mutter unnötig in Aufregung versetzen. Dann packte sie den Laptop unter den Arm und ging hinaus. Frau Schön begleitete Linda schweigend nach unten zur Haustür. Linda wollte gerade gehen, als die Tür aufging, und ein Mann hereinkam.
    »Das ist Frau Lange, sie ist von der Polizei, wegen Vanessa«, sagte Dorothea Schön zu dem Mann und wandte sich Linda zu. »Mein Mann.«
    Linda musterte ihn von Kopf bis Fuß. Das tat sie immer, und sie prägte sich alle Details gut ein. Im Vergleich zu anderen privaten Sachen vergaß sie solche Dinge nie. Vanessas Stiefvater war untersetzt, sehr muskulös, mit einem markanten Gesicht. Die Nase wirkte platt und breit. Vermutlich mehrfach gebrochen, mutmaßte Linda. Auch die dicken Oberlider erinnerten sie an einen Boxer. Aus der Akte wusste sie bereits, dass er ein erfolgreicher Münchner Gastronom war, dem einige bayerische Lokale, ein Biergarten und ein Zelt auf dem Münchner Oktoberfest gehörten.
    »Wissen Sie, wo Vanessa ist?«, fragte er ohne Umschweife.
    Linda schüttelte den Kopf und brachte ihre Locken in Bewegung.
    Der Mann starrte sie unverhohlen an.
    Dieser Blick gefiel ihr gar nicht. Der sieht aus, als würde er kurz vor einer Explosion stehen , dachte sie. Zeit zu gehen . »Machen Sie mir bitte schnell eine Liste von den Dingen, die Vanessa mitgenommen hat und eine Liste mit den Namen all ihrer Freunde«, sagte sie zu Frau Schön. »Ich fahre jetzt in Vanessas Schule und höre mich dort mal um.« Sie gab ihr eine Visitenkarte. »Und sollte sich Vanessa melden, rufen Sie mich bitte sofort an.«
    4
    Auf der Fahrt zur Schule rief Lewandowski auf ihrem Handy an.
    »Ich war bei den Eltern und jetzt fahr ich zu der Schule des Mädchens«, berichtete Linda wahrheitsgemäß. »Ist sonst noch was?« Es war nichts und Linda beendete das Gespräch. »Blöder Kontrollfreak«, schimpfte sie leise.
    Vanessa Schön, das vermisste Mädchen, besuchte das Gisela-Gymnasium am Elisabethmarkt. Während die Schule nach Erzherzogin Gisela von Österreich, der Tochter des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. benannt war, trug der kleine Markt neben der Schule den Namen ihrer berühmten Mutter Elisabeth, der bayerischen Sissi. Linda kannte diese Ecke Münchens wie ihre Westentasche. Sie wohnte nicht nur in der Nähe, sie war sogar hier aufgewachsen.
    Wider Erwarten fand sie direkt bei der Schule einen Parkplatz. Manchmal wirkte ein Stoßgebet eben doch. Schnell ging sie zu dem historischen Gebäude und sprang die Steintreppe hinauf. Die Stufen hatten in den Jahrzehnten unter Tausenden von Tritten nachgegeben und hingen regelrecht durch. Selbst Granit gab irgendwann nach.
    Als sie die Schule betrat, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie war neun Jahre Schülerin am Gisela-Gymnasium gewesen. Kaum etwas hatte sich verändert. Linda fühlte sich augenblicklich in ihre Schulzeit zurückversetzt. Obwohl sie seit dem Abitur die Schule nicht mehr betreten hatte, kam es ihr vor, als wäre das alles erst gestern gewesen.
    Sie stand in dem langen, breiten Flur, von dem viele Türen abgingen. Er mündete in einen großen Innenhof. Am Ende eines Ganges entdeckte sie einen Mann, der auf einem Tisch Gebäck, belegte Brote, Brezen, Süßigkeiten und Getränke anrichtete. Vermutlich für die bevorstehende Pause , dachte Linda. Sie grüßte den Mann mit einem Kopfnicken und ging wortlos an ihm vorbei. Sie musste ihn nicht nach dem Weg fragen, ihr innerer Kompass funktionierte noch, auch nach vielen Jahren.
    Linda
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