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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit
Autoren: Jodi Picoult
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schlichten Menschen, wie sie sich selbst nannten, fuhren mit ihren Kutschen durch den dichtesten Autoverkehr; sie standen in ihrer altertümlichen Kleidung im Lebensmittelladen Schlange; sie lächelten schüchtern hinter ihren Ständen, wenn wir frisches Obst und Gemüse bei ihnen kauften. Und so erfuhr ich eines Tages von Ledas Vergangenheit. Wir wollten frischen Mais kaufen, und Leda fing mit der Frau am Stand ein Gespräch an – auf Pennsylvaniadeutsch. Ich war elf und völlig verdutzt, als Leda – ebenso amerikanisch wie ich – in diese eigentümliche Sprache verfiel. Doch dann reichte Leda mir einen Zehn-Dollar-Schein. »Ellie, gib das bitte der Lady«, sagte sie, obwohl sie direkt vor ihr stand.
    Auf der Heimfahrt erklärte Leda, daß sie schlicht gewesen war, bis sie Frank heiratete, der nicht schlicht war. Gemäß den Regeln ihres Glaubens wurde sie unter Bann gestellt, also von gewissen sozialen Kontakten mit Amischen ausgeschlossen. Sie konnte mit amischen Freunden und Verwandten sprechen, durfte aber nicht am selben Tisch mit ihnen essen. Sie konnte mit ihnen im Bus sitzen, durfte sie aber nicht in ihrem Auto mitnehmen. Sie konnte bei ihnen einkaufen, brauchte aber eine dritte Person – mich – zum Bezahlen.
    Ihre Eltern und Geschwister lebten keine zehn Meilen entfernt.
    »Darfst du sie besuchen?« fragte ich.
    »Ja, aber das mache ich fast nie«, sagte Leda. »Eines Tages wirst du das verstehen, Ellie. Ich halte mich von ihnen fern, nicht, weil es mir unangenehm ist. Ich halte mich von ihnen fern, weil es ihnen unangenehm ist.«
    Leda erwartete mich, als der Zug in den Bahnhof von Strasburg einlief. Ich stieg aus, und sie streckte mir die Arme entgegen. »Ellie, Ellie«, rief sie. Sie roch nach Orangen und Fensterputzmittel; ihre runde Schulter war ideal, um meinen Kopf darauf zu betten. Ich war neununddreißig Jahre alt, aber in Ledas Armen war ich wieder elf.
    Sie führte mich zu dem kleinen Parkplatz. »Willst du mir erzählen, was los ist?«
    »Nichts ist los. Ich wollte dich bloß mal besuchen.«
    Leda schnaubte. »Du kommst immer nur zu Besuch, wenn du kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehst. Ist irgendwas mit Stephen?« Als ich nicht antwortete, kniff sie die Augen zusammen. »Oder ist vielleicht nichts mit Stephen – und das ist das Problem?«
    Ich seufzte. »Es hat nichts mit Stephen zu tun. Ich habe einen sehr anstrengenden Fall hinter mir und … na ja, ich brauch ein bißchen Ruhe.«
    »Aber du hast den Fall gewonnen. Ich hab’s in den Nachrichten gesehen.«
    »Ja, aber Gewinnen ist nicht alles.«
    Zu meiner Verwunderung erwiderte sie nichts darauf. Ich schlief ein, sobald Leda auf den Highway auffuhr, und wurde mit einem Ruck wieder wach, als sie in ihre Einfahrt einbog. »Tut mir leid«, sagte ich verlegen, »ich wollte nicht einfach einnicken.«
    Leda lächelte und tätschelte meine Hand. »Entspann dich mal schön bei mir. Solange du willst.«
    »Ach, allzulang soll es gar nicht sein.« Ich nahm die Koffer vom Rücksitz und eilte hinter Leda die Verandastufen hinauf.
    »Jedenfalls schön, daß du da bist, ob nun für zwei Nächte oder ein Dutzend.« Sie legte den Kopf schief. »Das Telefon klingelt«, sagte sie, stieß die Tür auf und griff hastig zum Hörer. »Hallo?«
    Ich stellte meine Koffer ab und streckte mich. Ledas Küche war blitzsauber und sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte: das Sticktuch an der Wand, die Keksdose in Form eines Schweins, die schwarzweißen Linoleumquadrate. Wenn ich die Augen schloß, war mir, als wäre ich nie fort gewesen, als wäre die schwerste Entscheidung, die ich an diesem Tag zu treffen hatte, die, ob ich es mir in dem gemütlichen Sessel hinterm Haus oder auf der quietschenden Hollywoodschaukel auf der Veranda bequem machen sollte. Leda war offensichtlich verblüfft, die Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören. »Sarah, schschsch«, sagte sie beruhigend. »Was iss letz?« Ich konnte nur Bruchstücke verstehen: en Kind … er hot en Kind g’funne … es Kind waar doot . Ich sank auf einen Hocker und wartete, bis Leda das Gespräch beendet hatte.
    Als sie auflegte, blieb ihre Hand einen langen Augenblick auf dem Hörer liegen. Dann drehte sie sich zu mir um, bleich und mitgenommen. »Ellie, es tut mir so leid, aber ich muß weg.«
    »Kann ich dir irgendwie –«
    »Du bleibst hier«, sagte Leda mit Nachdruck. »Du bist hier, damit du dich ausruhst.«
    Ich sah ihrem Wagen nach. Was auch immer das Problem war, Leda würde es
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