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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit
Autoren: Jodi Picoult
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wirklich einen Menschen brauchte, der sie festhielt, bevor sie hier auf dem Tisch auseinanderbrach, doch ihre Gedanken kannten nur die Sprache, mit der sie aufgewachsen war.
    »Alles wird wieder gut«, sagte die Schwester tröstend.
    Nach einem kurzen Seitenblick auf ihre Mutter glaubte Katie schon fast daran, schloß die Augen und wurde ohnmächtig.
    Auf dem Bahnsteig drückte ihre Mutter ihr einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand. »Weißt du noch, wo du umsteigen mußt?« Katie nickte. »Und wenn er nicht da ist, um dich abzuholen, rufst du ihn an.« Ihre Mutter strich Katie über die Wange. »Du darfst ein Telefon benutzen, wenn du mußt.«
    Natürlich würde die Benutzung eines Telefons noch die kleinste ihrer Sünden sein. Zum erstenmal, seit Jacob ausgezogen war, würde Katie – erst zwölf Jahre alt – ihn besuchen. Weit weg, in State College, wo er studierte.
    Ihre Mutter ließ den Blick nervös über die anderen wartenden Fahrgäste wandern. Sie hoffte, daß keine anderen schlichten Menschen sie sahen, die dann vielleicht Aaron berichteten, daß seine Frau und seine Tochter ihn angelogen hatten.
    Der lange, schnittige Amtrak-Zug fuhr ein, und Katie schlang die Arme fest um ihre Mutter. »Du könntest doch mitkommen«, flüsterte sie aufgeregt .
    »Du brauchst mich nicht. Du bist ein großes Mädchen .«
    Das hatte Katie nicht gemeint, und sie wußten es beide. Wenn Sarah mit ihrer Tochter nach State College fuhr, wäre sie ihrem Mann ungehorsam, und das war undenkbar. Katie als Gesandte ihrer Liebe zu schicken, schon das bedeutete einen Balanceakt zwischen Gehorsam und Auflehnung. Außerdem war Katie noch nicht durch die Taufe in ihre Glaubensgemeinschaft aufgenommen worden. Die Ordnung schrieb vor, daß Sarah nicht im selben Wagen mit ihrem exkommunizierten Sohn fahren durfte, nicht mit ihm am selben Tisch essen durfte. »Du fährst«, sagte sie und lächelte angestrengt. »Und wenn du zurückkommst, erzählst du mir alles von ihm.«
    Im Zug saß Katie allein, schloß die Augen vor den neugierigen Blicken der Menschen, die auf ihre Kleidung und Kopfbedeckung zeigten. Sie faltete die Hände im Schoß und dachte an das letzte Mal, als sie Jacob gesehen hatte, die Sonne war wie ein leuchtender Heiligenschein auf seinem kupferroten Haar gewesen, als er sein Elternhaus für immer verlassen hatte.
    Der Zug fuhr in State College ein, und Katie drückte das Gesicht an die Scheibe, suchte das Meer von englischen Gesichtern nach ihrem Bruder ab. Sie war den Anblick von nichtamischen Menschen natürlich gewohnt, aber selbst auf den belebtesten Hauptstraßen in East Paradise sah sie zumindest immer ein paar andere, die wie sie gekleidet waren und ihre Sprache sprachen. Die Menschen auf dem Bahnsteig waren schwindelerregend bunt gekleidet. Manche Frauen trugen winzige Tops und Shorts, so daß fast ihr ganzer Körper unbedeckt war. Entsetzt bemerkte sie einen jungen Mann, der einen Ring in der Nase und einen im Ohr trug und eine Kette, die beide miteinander verband. Jacob war nirgends zu sehen.
    Nachdem sie ausgestiegen war, drehte sie sich langsam auf der Stelle, voller Angst, von soviel Bewegung um sie herum verschluckt zu werden. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. »Katie?«
    Sie wandte sich um, sah ihren Bruder und lief rot an. Natürlich hatte sie ihn übersehen. Sie hatte erwartet, daß Jacob seinen breiten Strohhut trug, seine schwarze Hose mit den Hosenträgern. Der Jacob vor ihr war glatt rasiert, trug ein kurzärmeliges kariertes Hemd und eine Khakihose.
    Dann lag sie in seinen Armen, drückte ihn fest und spürte zum erstenmal richtig, wie einsam sie ohne ihn zu Hause gewesen war. »Mam vermißt dich«, sagte Katie atemlos. »Sie hat gesagt, ich soll ihr alles ganz genau erzählen.«
    »Ich vermisse sie auch.« Jacob legte ihr einen Arm um die Schultern und dirigierte Katie durch die Menge. »Du bist ja mindestens dreißig Zentimeter gewachsen.« Er führte seine Schwester zu einem kleinen blauen Auto. Katie blieb stehen und sah den Wagen verblüfft an. »Der gehört mir«, sagte Jacob sanft. »Katie, was hast du denn erwartet?«
    In Wahrheit hatte sie gar nichts erwartet. Nur, daß der Bruder, den sie geliebt hatte, der sich von seinem Glauben abgewandt hatte, damit er aufs College gehen konnte, daß dieser Bruder noch immer das Leben lebte, das er hinter sich gelassen hatte … bloß eben nicht in East Paradise. Das alles – die seltsame Kleidung, das kleine Automobil – ließ sie
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