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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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geeignete Bedingungen vorfand, eine nach biblischen Richtlinien gestaltete Metropole. Billy war verblüfft über seinen Einfall. Könnte er wirklich die Wiederkunft herbeiführen?
    Langsam, langsam wie immer, malte das Phantomauge das Neue Jerusalem auf den gesprenkelten Himmel, die sieben juwelengeschmückten Fundamente, die zwölf Perlentore, den funkelnden Fluß, darin Christus die ganze Welt taufen würde. In dieser Nacht hatte Billy nur einen Sünder gerettet und eine Klinik entsühnt, aber eines Tages… eines Tages würde er Gottes eigene Stadt errichten und Gottes eigenen Sohn herabrufen. O ja, er konnte des Heilands dröhnende Stimme schon hören, seinen feurigen Atem spüren; konnte sehen, wie die Füße des Herrn im Sturmschritt auf goldenen Straßen liefen, die Billy selbst bereitet hatte!
    Phantomaugen kann man nicht schließen, und Städte kann man nicht errichten auf besetztem Ort. Welcher Boden mag sich als heilig genug erweisen? Ein Ort, einst gottlos, ein Ort, dessen schwärend-faulige Sünden durch Jehovas heißes Schwert ausgebrannt waren?
    Ja.
    Eine Schlacht also. Babylon belagert und geplündert. Billys Hirn erschauerte unter der Vision. Der Rauch der Brände, die Schreie der Gemetzelten. Der typische Konfessionsprotestant konnte dem nie ins Gesicht sehen. Jeden Sonntag saßen Millionen von denen in ihren Kirchenstühlen, stierten in die Bibeln, scheuten aber die Konfrontation mit dem letzten der Bücher. Aber es war da, in jeder lauwarmen, kleinen methodistischen und Episkopalkirche: die Offenbarung des Johannes, jenes Kompendium von Apokalypse und Gemetzel, von Armeen, die in blutiger Rüstung auf Babylon marschierten, von Sündern, die in den Feuersee geworfen und in der Weinpresse zerquetscht wurden von Gottes Zorn. Aber Billys Apokalyptiker konnten sich dem stellen. O ja, o ja…
    Wehe, wehe über dich, Babylon, du große Stadt, über eine kleine Weile kommt das Gericht über dich!
    Das Brigantine-Leuchtfeuer brannte hell wie noch nie, als Billy die Pentecost Kurs auf die offene See nehmen ließ.

 
2. Kapitel
     
    Die bloße Gegenwart des Embryos machte Murray viel Freude, er brachte ihn deshalb ins Schlafzimmer, stellte ihn auf die Kommode; in der Nähe ein Foto: Pop und er selbst, wie sie auf dem längst stillgelegten Karussell am Steel-Pier fuhren. Wenn er abends vom Photorama heimkam, lief er nun mit dem Eifer eines Zwölfjährigen, der seine elektrische Eisenbahn inspiziert, zu der gläsernen Gebärmutter. Die Betrachtung des Fetus in der Fruchtblase erweckte in ihm zwar das Gefühl, dessen Privatsphäre zu stören – aber störte schließlich nicht jede Art der Elternschaft die Privatsphäre des betreffenden Objekts? Und so schaute er zu – Voyeur der Ontogenese.
    In Stephen Lamberts ›Lebendige Evolution‹ hatte Murray gelesen, die Ontogenese ›rekapituliere nicht einfach die Philogenese‹, sollte heißen, in utero gab es keine erwachsene Formen anderer Ordungen des Tierreichs. Dennoch hatte der Embryo ein Gefühl für die eigene Geschichte. Wenn nur Papa hätte hier sein können. Schau, hätte Papa gesagt, schau nur, wie meine kleine tsatske heranwächst! Guck, jetzt ist sie ein Hering. Jetzt eine Schildkröte. Und nun sollte eigentlich… Ich hab’s gewußt, Murray, ein anthropoider Affe! He, jetzt ist sie schon ein Discjockey! Welches Stadium kommt als nächstes? Der Neandertaler, sollte man meinen. Ja, ganz planmäßig. Na schau, jetzt haben wir eine High School-Absolventin. Eine Anwältin, Mur. Sie wird immer besser. Und jetzt – hab ich recht? –, ja, sie ist fertig. Alles komplett. Eine Jüdin.
    Leider war Angel’s Eye ein auffallendes und verlockendes technisches Gebilde, das ständig gelangweilte Teenager aus der Stadt und neugierige Erwachsene vom Brigantine-Jachtclub anzog. Wenn Murray weg war – Photorama-Kunden bedienen oder im Stop and Shop schnell einen Stapel tiefgefrorener TV-Dinners holen –, bedrängte ihn die Vorstellung idiotischer Eindringlinge, die durchs Schlafzimmerfenster spähten und Pläne ausheckten, wie sie den seltsamen Apparat auf der Kommode stehlen könnten.
    In der Waschküche war sie sicher besser aufgehoben. Also fuhr er an einem frostigen Februarmorgen zu Children’s Universe und kaufte eine Hundertfünfzig-Dollar-Wiege mit Hartholzseitenwänden, Mobile mit Plastikgänsen aus Schweden – und der höchsten Punktezahl der Consumer Product Safety Commission. Er baute Wiege und Mobile zusammen, setzte die Maschine auf die Matratze und
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