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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
Autoren: Carola Clasen
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gekauft. Wenn ich im Bett liege, erinnert mich der Anblick der beiden Bilder an den Anfang einer Ahnengalerie. Und vor meinem inneren Auge sehe ich einen Stammbaum, der sich unendlich verzweigt. Vor uns war nichts.
    Ich habe versucht auszusehen wie auf meinem Foto. Ich habe mir ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Pullover mit V-Ausschnitt gekauft. Ich habe vor dem Spiegel versucht zu lachen wie er. Ich habe meine Haare gekämmt wie er. Es nützte nichts. Pullover und Hemd blieben das Einzige, worin wir uns ähneln.
    Sie darf es nie erfahren. Ein Treffen zwischen uns war für immer ausgeschlossen. Als mir das bewusst wurde, habe ich mir keine große Mühe mehr mit der Wahrheit gemacht.
    Ich habe den Mann erfunden, der ich immer sein wollte. Aus dem Unsportlichen, der über seine eigenen Füße fiel, ein Jogger und Biker. Aus dem Ängstlichen einen Abenteurer und Chef über zehn Angestellte. Aus meinem rostigen Fahrrad einen Alpha Romeo. Aus meiner Zwei-Zimmerwohnung ein Haus am See.
    Es hat mir großen Spaß gemacht, mich neu zu erfinden. Und mit der Zeit fand ich mich sogar wieder in diesem Mann, den ich
charmingboy
taufte. Sie nannte sich
cherry26
.
    Cherry
schrieb mir jeden Tag lange Mails, wir telefonierten auch übers Handy und flüsterten ergriffen ins Telefon. Sie war trotz ihrer auffallenden Schönheit ein einfacher, bescheidener Mensch geblieben. Von Beruf Krankenschwester, der Beruf sagt ja wohl alles. Sie suchte einen starken Mann an ihrer Seite, auf den sie sich jederzeit verlassen konnte. Ihre Stimme klang sanft und ein bisschen schüchtern. In meiner schimmerte jeden Tag ein wenig mehr der Beschützer durch. Sie verfehlte ihre Wirkung nicht.
    Eines Abends kurz vor Mitternacht gestand sie mir, sie habe sich in mich verliebt. Das wäre ihr noch nie passiert. Ich hatte es schon geahnt. Erging es mir nicht ebenso?
    Ein Treffen schoben wir trotzdem hinaus. Sie wollte den Zauber, der in jedem Anfang liege, möglichst lange bewahren, sich der träumerischen Illusion möglichst lange hingeben, die Spannung zur Hochspannung reifen lassen, mit der Distanz die Leidenschaft befeuern. Sie konnte sehr poetisch sein. Mir war das nur recht.
    Aber plötzlich wendete sich das Blatt.
Cherry
schrieb mir, dass sie mich unbedingt sehen müsse. Sie müsse mir etwas Wichtiges sagen und dabei in meine Augen sehen, meine Stimme hören, mich berühren und vielleicht noch mehr. Es sei dringend.
    Verstört ließ ich sie ein paar Tage auf Antwort warten und fragte mich, was geschehen sein mochte. Als ich mich wieder bei ihr meldete und sie weiter auf einem Treffen bestand, schob ich erst Besuch einer Tante, dann viel Arbeit und zuletzt eine Krankheit vor. So gewann ich ein paar Tage.
    Danach schrieb sie mir, sie habe in der Zwischenzeit meinen wahren Namen herausgefunden, sie wisse nun auch meine Adresse. Nicht um mir nachzuspionieren, sondern nur, weil sie sich Sorgen um mich mache und auf jeden Fall nach mir sehen müsse, sonst könne sie kein Auge mehr zutun.
    Ich beteuerte, dass es dazu keinen Anlass gäbe, da sich meine Krankheit als Irrtum herausgestellt hätte. Ich schaltete meinen Rechner aus und zog den Stecker. Ich war fassungslos. Sie machte alles kaputt mit ihrer übertriebenen Fürsorge.
    In dieser Nacht wurde mir schlagartig klar, wie sie meine Identität hatte herausfinden können: sie musste eine Hackerin sein. Ich wachte schweißgebadet auf, schaltete meinen Rechner ein und ging online.
    Von
cherry
war eine Mail mit hoher Priorität hereingekommen. Ich öffnete sie und las mit schreckgeweiteten Augen: »Ich komme morgen. Mach dir keine Sorgen, mein Liebling, alles wird gut.«
    Ich sprang auf, lief hin und her. Meine kleine Wohnung gab nicht viele Verstecke her. Ich überlegte zu verschwinden, unterzutauchen, aber eine entschlossene Hackerin wie sie würde mich überall aufspüren. Ein Leben auf der Flucht stünde mir bevor. Ich erwog,
cherry
mit unverschämten Worten zu vergraulen, aber ich brachte es nicht übers Herz. Ich dachte sogar daran, ihr ein Original-Foto zu schicken. Aber das kam mir alles schlimmer vor als der Tod.
    Was ich tun konnte, habe ich getan. Ich habe einen Küchenstuhl als Trittbrett vor die Balkonbrüstung gestellt und so nah an die Hauswand gerückt, dass ich mich an ihr hochziehen und festhalten kann.
    Auf den Küchenstuhl bin ich erst gestern Abend geklettert, um die Wäscheleine über mir neu zu spannen, der hält mich aus, auch wenn er knarrt und ächzt. Ich recke mich und teste die
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