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Die dunklen Wasser von Arcachon

Die dunklen Wasser von Arcachon

Titel: Die dunklen Wasser von Arcachon
Autoren: David Tanner
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aufzuspalten. In einem ersten großen Stück, das er noch für denselben Tag zusammenhämmern würde, würde er einfach die Fakten erzählen, die nur er in dieser Ausführlichkeit kannte. Er würde Pelleton überreden, die halbe Seite eins frei zu räumen und den Text auf die gesamte dritte Seite überlaufen zu lassen. Das war ungewöhnlich, in diesem Fall aber angemessen. In den Folgetagen würde er noch größer zulangen und die Geschichte immer detailreicher für seine Leser aufblättern, außerdem würde sie von ganz alleine durch den Sturm der Reaktionen, der zu erwarten war, immer größer werden.
    Für heute konnte man den Andruck verschieben, nicht für ewig, aber wenigstens so, dass Kirchner bis fünfzehn Uhr oder ein wenig länger zum Schreiben Zeit haben würde, das waren noch gut drei, vier Stunden. Die Geschichte würde in der Doppelausgabe für Sonntag und Montag erscheinen, die normalerweise am Samstag spätnachmittags ausgeliefert wurde. Diesmal würde es eben etwas später werden.
    Es ist zu schaffen, dachte Kirchner, es ist knapp, aber zu schaffen.
    Er telefonierte mit Pelleton, und sie verabredeten in aller Eile das Verfahren. Der Chef war einverstanden, Kirchner würde die halbe Seite eins und die ganze Seite drei bekommen.
    Kirchner fuhr ins Restaurant Chez Janine , das samstags und sonntags Ruhetag hatte. Dort würde er in Ruhe schreiben können.
    Lasserre schloss ihm auf, er wohnte in einem der Fachwerkhäuser in der Nachbarschaft.
    »Wenn Sie Hunger bekommen, wissen Sie ja, wo und wie«, sagte Lasserre noch, bevor er Kirchner allein im Restaurant zurückließ.
    Von zwölf bis fünfzehn Uhr vierzig schrieb Kirchner an einem Tisch, den er sich auf die Veranda gezogen hatte, sechshundert Le-Monde -Zeilen.
    Bald begann sein Blackberry in immer kürzeren Abständen zu klingeln, die Pariser Zentrale fragte nach Text.
    »Gleich, gleich«, sagte Kirchner, »verdammt noch mal, gleich.«
    Er spitzte die Sache auf Paris zu, worauf sonst, er stellte die Verstrickung der Minister heraus, ihre seltsamen Nebentätigkeiten in Arcachon, er schilderte das Gezerre um das Projekt Nautilus , die verflochtene Struktur der internationalen Holding. Die Sex-Nacht von Le Canon sparte er sich für einen späten, schockierenden Höhepunkt auf. Der Präfekt von Bordeaux, Verteidigungsminister Fleurice, Finanzminister Lacombe, Staatssekretär Guillemin, sie spielten ihre mehr oder minder unrühmlichen Rollen, der böse Bürgermeister Decayeux stampfte durch die Zeilen wie das Monster, das er war.
    Kirchner bemühte sich, seine Informanten nicht zu belasten. Er beließ die Guten im Schatten der Anonymität und stellte die Schlechten ins grelle Licht.
    Der erste Satz seiner Reportage lautete: In den frühen Morgenstunden des Mittwochs verzieht sich ein Sturm der Stärke neun über dem Golf von Gascogne, als die Falcon den Hafen von Arcachon mit zwei Zentnern Seezungen und einem Toten im Schleppnetz wieder erreicht …
    Kirchner spürte beim Schreiben, dass er noch kleine Wissenslücken hatte, aber sie fielen fürs Erste nicht ins Gewicht. Die Geschichte war ausreichend recherchiert, er wusste das immer erst beim Schreiben. Er setzte Satz hinter Satz, Absatz hinter Absatz, er hatte keine Zeit für Kunst, nur für Handwerk, und er war froh in diesen gedrängten Minuten, dass er sich auf seine in Jahrzehnten eingeübten Fertigkeiten verlassen konnte.
    Fünf Minuten vor sechzehn Uhr verschickte Kirchner den Text per E-Mail.
    Um sechzehn Uhr zwanzig hatte er Pelleton am Apparat, der Tränen der Begeisterung weinte: »Antoine, mein lieber Antoine, das ist unfassbar, es ist un-fass-bar, es ist hinreißend, wir schreiben Geschichte, damit schreiben wir Geschichte.«
    Kirchner war erschöpft. Er dankte seinem Chef wie ein Sportler, der nach hartem Kampf gerade die Ziellinie hinter sich gebracht und den Atem noch nicht wiedergefunden hatte.
    Er war hungrig. Er stieg in Lasserres Restaurantküche hinunter und fand in einem der gewaltigen Kühlschränke eine Schüssel mit Schweineleberpastete, ein eimergroßes Glas Rotisseursenf und hausgemachte Cornichons, in einem Kasten lag geschnittenes Brot. Er genoss diese grobe Mahlzeit wie lange keine mehr, von einer der Kochzeilen bediente er sich aus einer offenen Flasche Margaux und stieg dann wieder hinauf auf die Veranda.
    Es zählte zu den schönsten Momenten des Reporterlebens, »auf den Knopf zu drücken«, wie Kirchner das nannte, den Moment, wenn eine Geschichte geschrieben,
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