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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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den neuen Fall einfach ablehnen zu können, dann war diese Selbsttäuschung nun enttarnt. Sicher, ich konnte die Zusammenarbeit mit der Akademie ablehnen. Aber den Fall wurde ich nicht mehr los. Ich hatte einen Blick in die verdammten Akten geworfen und damit ein Monster aus dem Käfig gelassen. Mea culpa. Was blieb? Die Möglichkeit, die Chance zu nutzen und zu sehen, ob sich nicht doch eine neue Spur auftat. Eine Lösung, die meine Träume endgültig verjagte. Und sie nicht nur aussperrte wie hungrige Wölfe.
    Ich musterte mein Spiegelbild. Die Spuren des Lebens begannen sich zu zeigen. Feine Linien der Erfahrung auf meiner Stirn, in den Augenwinkeln. An den Schläfen mischten sich graue Strähnen zwischen das satte Dunkelbraun. Das war sicher auch Mirella nicht entgangen … und ich ging schon lange nicht mehr an Frauen vorbei, ohne dabei den Bauch einzuziehen.
    Der Lack ist ab, Jakob, dachte ich, das lässt sich nicht mehr verstecken. Seltsamerweise löste dieser Gedanke Leichtigkeit in mir aus. Älter werden. Na und? Ich war jetzt Anfang 40 und richtig jung hatte ich mich eigentlich nie gefühlt. Zur Hölle also mit dem Älterwerden. Ich lächelte dem Mann im Spiegel zu und er lächelte schief zurück.
    Wenn einem schon keine Wahl blieb, dann war die Flucht nach vorn die beste aller Verzweiflungstaten. Und solange der Mann im Spiegel noch zurücklächelte, gab es keinen wirklichen Grund zur Sorge.

Kapitel 2
    Mein Herz schlug dumpf, als ich durch die großen Flügeltüren der Akademie schritt. Es war so lange her … Ein ganzes Leben schien vergangen zu sein, seit ich dieses Gebäude zum letzten Mal verlassen hatte. In der großen Eingangshalle blieb ich stehen und ließ den Blick hoch zur gewaltigen Glaskuppel und dann weiter über die lichtdurchfluteten Galerien wandern. Menschen jeden Alters und jeder Herkunft strömten geschäftig durch die Gänge, hier und da wehte ein Lachen zu mir herüber. Niemand beachtete mich, und doch packte mich die Atmosphäre der Akademie erneut innerhalb von Sekunden. Die Akademie – das war ein weltoffenes, freundliches Biotop, das Menschen wie mir und Mirella ein Zuhause gab. Hier hatten wir die Möglichkeit, unsere Sonderbegabungen zu nutzen, mit dem großen Ziel, aus dieser Welt einen besseren Ort zu machen.
    Die Luft schien regelrecht zu flirren vor Inspiration, und erneut spürte ich eine seltsame Mischung aus Trauer und Wut in mir aufsteigen. Wieso hatte mir damals niemand geglaubt? Wieso war es so einfach gewesen, mich von all dem hier auszuschließen? Ich hatte weit mehr verloren als nur eine Arbeit und der Schmerz dieses unerwarteten Verlustes drückte noch immer wie eine zu eng gewordene Haut. Beim Anblick all der Menschen, die hier ganz selbstverständlich ein und aus gingen, rissen alte Wunden schmerzlich wieder auf. Doch da war noch etwas Anderes. In die Sehnsucht, wieder dazuzugehören, mischte sich ein Gefühl achtsamer Vorsicht. So als traute ich den Wänden aus weißem Marmor ihre Stabilität plötzlich nicht mehr zu.
    Ich griff mir an die Schläfe, schloss für einige Sekunden die Augen und atmete tief durch. Meine Nerven waren überreizt, das war alles. Und sicher würde es eine Weile dauern, bis die alte Selbstverständlichkeit zurückgekehrt war. Das konnte mir niemand verübeln. Ich straffte die Schultern und trat an eine große Tafel mit einem Lageplan, um mich im Gebäude zu orientieren. Die Hörsäle, die Büros, die Bibliotheken und Labore, die Mensa – nichts hier schien sich verändert zu haben. Außer mir.
    *
    »Und jetzt, Jakob? Soll ich dich wieder einstellen? Nach allem, was passiert ist?«
    Simon Brenner blickte mich so sicher über die randlosen Gläser seiner Brille an, als hätte er die ganze Zeit mit meinem Auftauchen in seinem Büro gerechnet. Für einen Augenblick ärgerte mich das selbstgerechte Auftreten meines früheren Chefs. Simon Brenner war wohl das, was man als einen eloquenten Mann bezeichnen konnte. Er war zielstrebig, gewissenhaft, ein hervorragender Leiter der Abteilung für paranormale Kriminaldelikte – und gelegentlich ein menschliches Arschloch, wie ich es in meinem Leben selten erlebt habe.
    Ich verzog die Mundwinkel. »Soweit ich weiß, hast du mich wegen dieses Falls rufen lassen. Nicht umgekehrt. Ich dränge mich nicht auf. Ich habe längst neue Aufgaben in meinem Leben.«
    »Davon wüsste ich.« Simon lehnte sich in seinem bequemen Ledersessel zurück. »Natürlich drängst du dich auf. Du bist kurz davor, mir um den
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