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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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Schatten sah. Der Rest ist nichts als eine verwaschene Kollage aus zertrümmerten Hoffnungen, Prinzipienreiterei und hohlem Gelächter.
    Ich blickte aus dem Fenster und nagte auf meiner Unterlippe herum, während sich die Flut der Erinnerungen den Weg durch neuronale Verzweigungen bahnte. Manchmal glaubte ich die Stoßwellen an Informationen während ihrer Verarbeitung regelrecht flirren zu hören, glaubte zu spüren, wie die Netzwerke sich untereinander neu verknüpften und immer feinere Gespinste bildeten, während ich hilflos dasaß und das Denken seinen Lauf nahm. Ich bin mir sicher, dass ich niemals selbst denke. Ich bin es nicht, der denkt. Es denkt mich. Und es denkt ohne mein Zutun.
    Manchmal hasse ich mich dafür. Und für dieses Fühlen, das ich nicht verhindern kann, für dieses Denken, das mich in Geiselhaft hält. Mein persönliches Stockholm-Syndrom. Ich sympathisiere mit meinem Entführer. Und verachte unsere illustre Gemeinschaft zugleich.
    Mirella hat mich einmal als genial bezeichnet. Das ist viele Jahre her und es ist Unsinn. Ich bin nicht genialer als jeder andere. Ich bin nur ein wenig unfähiger, die ganz normale Genialität zu verbergen.
    Ich beobachtete, wie sich das rußige Tuch der Dämmerung langsam über die Stadt senkte. Im Häusermeer flammten Lichter auf, einige, mehr, dann viele. Ich blieb im Dunkel meiner Wohnung sitzen und dachte nach. Tuberkulose also. Eine neue Frauenleiche. Eine alte Geschichte. Und ich mittendrin, ob ich nun wollte oder nicht. Die Vergangenheit hatte mich eingeholt.
    *
    Mitten in der Nacht schreckte ich hoch und rang nach Luft. Mein Herz raste, ich war schweißgebadet und hatte den bitteren Geschmack eines schlechten Traumes noch auf den Lippen. Lose Bilderfetzen hingen über mir wie drohende Wächter. Die Erinnerungen. Wieder da. Nach über zwei Jahren.
    Die jungen Frauen. Ihre Blicke aus starren, leeren Augen, die so viel gesehen zu haben schienen. Die stummen Münder, denen niemand mehr des Rätsels Lösung entlockte. Und die Tuberkulose, die niemand sich erklären konnte. Es waren die schwersten TBC – Fälle in Berlin seit Jahrzehnten. Doch daran waren sie nicht gestorben. Woran nur, woran nur … alle Akten geschlossen. Alle Lippen versiegelt.
    Stöhnend richtete ich mich auf. Die Lamellen der Jalousie pressten das Licht der Straßenlaternen zu schmalen Streifen an der Wand. Ich strich mir die verschwitzten Haare aus der Stirn und griff nach der Flasche, die neben meinem Bett stand. Kühl rann das Wasser meine Kehle hinunter.
    Auf dem Weg ins Badezimmer rieb ich mir die Augen. Mein rasender Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Ich hatte geglaubt, die Zeit der Albträume sei vorüber. Seit Monaten hatte ich Ruhe gehabt, endlich wieder friedlich geschlafen. Ich hatte nicht mehr jeden Morgen ausgesehen wie ein umnachteter Halbtoter. Das Einzige, was hartnäckig blieb, war ein leichter Spannungskopfschmerz und gelegentliche unerklärliche Migräneanfälle, die aus dem Nichts zuschlugen. Dennoch hatte ich langsam wieder angefangen, das Leben zu genießen. Auf meine, zugegeben, etwas verschrobene Art.
    Und dann reichte ein Besuch meiner Exfrau nebst ein paar Blättern Papier und das ganze Kartenhaus aus geheuchelter Seelenruhe fiel in sich zusammen …
    Ich beugte mich über das Waschbecken und ließ mir kaltes Wasser über Arme und Gesicht laufen, bis auch die letzte Benommenheit des Schlafes verschwunden war. Dann richtete ich mich auf.
    »Wer bist du …« murmelte ich, während ich dem Blick des Mannes standhielt, der mir aus den Tiefen des Spiegels entgegensah. Manchmal wünschte ich, nur ein einziges Mal die Gedanken sehen zu können, die ihm durch den Kopf gingen. Zu ergründen, was während des Schlafes hinter dieser hohen Stirn geschah, wenn die Zahnräder der Träume ineinandergriffen.
    Diese Träume. Alle üblichen Strategien versagten, wenn es um diesen alten Fall ging. Wann immer mich sonst Träume quälten, wusste ich damit umzugehen. Sie waren wie Pforten, die ich schließen konnte, wann immer ich wollte. Ich hatte mir antrainiert aufzuwachen, sobald ein Traum zu unangenehm wurde. Was zur Folge hatte, dass ich öfter unausgeschlafen war, als mir lieb sein konnte. Doch es verhinderte, dass ich den Albträumen wehrlos ausgeliefert war. In dieser Nacht aber hatte mein geschultes Frühwarnsystem erstmals seit langem wieder versagt, und das war mehr als bedenklich. Es bedeutete, dass mir keine Wahl blieb. Wenn ich mir am Abend noch eingebildet hatte,
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