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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Autoren: Bastei Lübbe
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sein Schlafzimmer grenzende Bad. Über dem Waschbecken hängt ein Badezimmerschrank mit drei verspiegelten Türen, den der Vermieter angebracht hat. Ein absoluter Graus. Ängste. Der Mann fürchtet Spiegel und verhängt sie mit Tüchern. Er hasst sein Gesicht, das ihm so viele Schmerzen verursacht. Um die Qual und die Übelkeit zu bekämpfen, bleibt er unbeweglich stehen, klammert sich an den Rand des Waschbeckens und beugt sich leicht nach vorn. Schon kurze Zeit später spürt er entnervt, wie eine warme Flüssigkeit aus seiner Nase rinnt. Blut. Langsam, aber regelmäßig fällt ein Tropfen nach dem anderen ins Waschbecken. Tok, tok, tok. Wenn die Tropfen auf die weiße Keramik treffen, sehen sie aus wie rote Sterne. Der Mann hält sein Gesicht unter den kalten Wasserstrahl, steckt sich mit geschlossenen Augen kleine Pfropfen aus Papiertaschentüchern in die Nasenlöcher und kehrt zu seinem Bett zurück. Weil Wochenende ist, braucht er sich nicht zu rasieren; das erspart ihm die Folter der Rasur. Seitdem er die Qualen in seinem Gesicht verspürt, benutzt er einen Elektrorasierer; seine Haut hält die Klinge des Nassrasierers nicht mehr aus.
    Zwei Stunden später macht er seine tägliche Gymnastik. Liegestütze wechseln mit Situps; den Abschluss bilden zehn Minuten schnelles Seilspringen. Das Seil fegt über den Boden; der Mann hüpft nur wenige Millimeter hoch, um es passieren zu lassen. Erschöpft und schwitzend nimmt er drei hart gekochte Eier aus einem kleinen Kühlschrank, isst sie hastig und trinkt ein großes Glas Sojamilch hinterher. Anschließend stellt er sich für etwa zwanzig Minuten unter die kalte Dusche. Der Mann ist schlank, aber sehr muskulös, hat braunes, kurz geschnittenes Haar und ist davon abgesehen am gesamten Körper rasiert. Er trocknet sich sorgfältig ab, zieht leichte, beigefarbene Bermudashorts an, streift ein weißes T-Shirt über und schlüpft in Sportschuhe. In seinen Rucksack steckt er zwei große Wasserflaschen, seine Medikamente und ein Handtuch.
    Ehe er die Wohnung verlässt, nimmt er sich zwanzig Minuten Zeit, um sie sorgfältig aufzuräumen und zu reinigen. Als er geht, schließt er zweimal ab. Geschmeidig läuft er die Holztreppen hinunter.
    Unnötig zu erwähnen, dass der Mann ausgesprochen pedantisch und wirklichkeitsfern ist. Er ist geradezu besessen von Ordnung und Sauberkeit. Außerdem hat er eine Phobie. Er leidet unter Angst vor Berührungen. Er kann es nicht ertragen, jemanden anzufassen oder angefasst zu werden, und wäscht sich mindestens fünfzigmal am Tag die Hände. Immer hat er eine Ausrede, um seinen Kollegen nicht die Hand geben zu müssen, und wenn es irgend möglich ist, trägt er hautfarbene Handschuhe, die kaum auffallen. Sobald es kalt wird, sind seine Hände von morgens bis abends behandschuht. So hat er seine Ruhe und muss nicht ständig die Hände von Leuten anfassen, die ihn anekeln – also allen außer ihm selbst.
    Er hat eine möblierte Wohnung mit Dusche »im Pariser Stadtzentrum« gemietet, wie der Makler das Appartement angepriesen hat, das in der sechsten und damit obersten Etage eines aufzuglosen, veralteten Wohngebäudes liegt. An der Wohnungstür hatte der Eigentümer einen langen Spiegel befestigt. »Sehr praktisch. Man kann sich nicht nur im Ganzen sehen, sondern die Wohnung wird so optisch vergrößert.« Dazu hatte der Mann nur genickt, doch sobald er allein war, hat er den Spiegel mit Zeitungspapier abgeklebt. Seit einigen Monaten wohnt er jetzt schon in der grauen, traurigen und seelenlosen Straße im 9. Arrondissement, nicht weit vom Bahnhof Saint-Lazare. In der Rue de Budapest. Sie ist gepflastert, nicht sehr sauber und liegt zwischen der sehr verkehrsreichen und lauten Rue Saint-Lazare und der Place de Budapest. Früher gingen hier viele Prostituierte ihrem Gewerbe nach, heute jedoch sind es nur noch zwei oder drei, nicht mehr ganz jung, aber mit Stammkundschaft. Meist sind es schüchterne Männer, denen die afrikanischen und osteuropäischen Bordsteinschwalben Angst machen, weil sie zu aggressiv oder zu aufgedonnert sind.
    Im fünften Stock wohnt ein Rentnerehepaar, das nicht genügend Geld hat, um in Urlaub zu fahren. Die Kinder rufen zweimal die Woche an, um ihr Gewissen zu beruhigen. Die alten Leute sind beide achtzig. Der Verkehrslärm und die große Hitze machen ihnen schwer zu schaffen, ebenso wie Langeweile und Gleichgültigkeit. Ihr neuer Nachbar geht ihnen auf die Nerven. Jeden Morgen hören sie ihn hüpfen und fragen sich,
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