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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Autoren: Bastei Lübbe
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was der alleinstehende Mann dort oben wohl tun mag. Tag für Tag drängt die Frau ihren Mann, dem Nachbarn endlich zu sagen, dass er mit dem Lärm aufhören soll, und jedes Mal antwortet der Mann, dass er es ganz bestimmt am nächsten Tag tun wird.
    An diesem Morgen jedoch – vielleicht liegen durch die Hitze die Nerven blank, vielleicht war die Frau besonders nörgelig oder der Mann besonders gereizt, vielleicht lag es an allen drei Gründen zusammen – beschließt der Nachbar, den Mann zur Rede zu stellen. Entschlossen verlässt er seine Wohnung und findet sich Auge in Auge mit dem Mann wieder, der gerade die Treppe hinunterkommt. Er ist überrascht; er hatte nicht erwartet, ihn zu treffen. Gerade war er dabei, sich einen Satz auszudenken, doch jetzt muss er rasch handeln, hat aber vergessen, wie er den Störenfried zurechtweisen wollte.
    »Guten Morgen. Ich wohne unter Ihnen. Meine Frau und ich werden jeden Morgen von Ihrem Lärm geweckt. Wir wissen nicht, was Sie tun. Es hört sich an, als ob Sie hüpften, äh ... äh ...«
    Der Mann betrachtet den alten Nachbarn ohne den geringsten Funken von Interesse. Er wartet, bis er zu sprechen aufhört, was sehr bald geschieht, weil das Gesicht des Nachbarn, den er noch nie aus der Nähe gesehen hat, ihn bestürzt und verstört.
    »Ach wirklich? Tut mir leid. In Zukunft werde ich aufpassen. Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Einen schönen Tag noch.«
    Es sollte heiter klingen, ging aber gründlich daneben. Der Mann setzt seinen Weg leicht verärgert fort. Der Rentner ist erleichtert, dass der Mann fort ist. Er schließt die Tür und wendet sich triumphierend seiner Frau zu.
    »Das hat gut gepasst. Der Kerl kam gerade aus der Tür. Ich habe ihm ein paar Takte gesagt, und er hat nicht einmal aufgemuckt. Aber du müsstest mal sein Gesicht sehen! Es ist unglaublich. Man könnte meinen, er ...«
    Der alte Mann wird vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Seine Frau hebt hastig ab.
    »Das ist wahrscheinlich meine Schwester ...«
    Der alte Mann ärgert sich über die Unterbrechung mitten im Satz. Um sein Missfallen zu äußern, dreht er das Radio so laut, dass seine Frau gezwungen ist, sich das freie Ohr zuzuhalten und sehr laut zu sprechen.
    Auf der Straße drückt sich der Mann eine Kappe mit einem großen Schirm tief ins Gesicht und setzt eine Sonnenbrille auf. Jetzt ähnelt er einem beliebigen Touristen, wie sie allenthalben durch die überhitzten Straßen von Paris traben. Sein Auto hat der Mann in der Rue de Budapest parken können; im August gibt es in Paris deutlich mehr freie Parkplätze. Er besitzt einen zwanzig Jahre alten dunkelblauen Ford Sierra in hervorragendem Zustand. Der Mann geht sehr pfleglich mit dem Wagen um; er kann sich keine Panne leisten. Heute jedoch geht er das Risiko, ihn zu benutzen, nicht ein. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme: Je weniger man den Ford bemerkt, desto besser. Dies ist umso wichtiger, als die Straßen, in denen er auf die Jagd geht, ausgesprochen ruhig sind. Ungewöhnliches würde man schnell bemerken. Wenn er zwei oder drei Mal langsam durch die Straße führe, wäre die Gefahr des Wiedererkennens zu groß. Seinen letzten Erkundungsgang wird er mit der Metro und zu Fuß erledigen.
    Am Spätnachmittag verlässt der Mann den Park am Trocadéro, wo er zugeschaut hat, wie überhitzte Touristen und Pariser sich in den Springbrunnen abkühlten. Er überquert die Brücke Pont d’Iéna, geht unter dem Eiffelturm hindurch und macht sich auf den langen Spaziergang ins 6. Arrondissement. Er schlendert gemütlich, hat jedoch ein bestimmtes Ziel.
    Vor einem Wohnhaus in der Rue Monsieur-le-Prince bleibt er stehen. Die Straße liegt in der Nähe des Odéon und des Boulevard Saint-Germain und ist recht ruhig. Das ausgesprochen schöne Gebäude besitzt eine geschnitzte Holztür mit zwei großen Türflügeln, die sich zur Straße hin öffnen. Zufrieden stellt der Mann fest, dass die Fenster der Wohnung in der ersten Etage offen sind. Er zögert einen Moment, ehe er mit einem Generalschlüssel, wie ihn Briefträger, Pizzaservices und Zeitungsausträger besitzen, die Tür öffnet und den Flur betritt. Die Pförtnerloge ist »wegen Urlaub geschlossen«, wie auf einem linkisch beschrifteten, an der Glastür befestigten Karton zu lesen ist. Lautlos steigt der Mann die mit rotem Teppich ausgelegten Treppen hinauf. Mit angehaltenem Atem lauscht er an der Tür.
    Im Innern ist leise klassische Musik zu hören. Eine Frau telefoniert. Als sie auflegt,
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