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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Autoren: Bastei Lübbe
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hört man nur noch die Musik. Nachdem der Mann mehrere Minuten gelauscht hat, um sicherzustellen, dass sie wirklich allein ist, steigt er geräuschlos die Treppe wieder hinunter.
    Auf der gleichen Etage pendelt der siebenundachtzigjährige Léonce Legendre zwischen dem Fenster zur Straße und dem Spion an der Tür hin und her. Sein Wohnzimmer liegt genau über der monumentalen Tür des Wohnhauses. Von seinem Beobachtungsposten aus kann Legendre bis zur Rue Dupuytren sehen, die in die Rue Monsieur-le-Prince einmündet. Er langweilt sich tödlich und leidet unter der Hitze. Seine einzige Abwechslung sind die beiden Anrufe, die er täglich von seiner Tochter erhält. Immer wieder fordert sie ihn auf, ausreichend zu trinken. Die Haushälterin, die ihm sein Essen bringt und so tut, als reinige sie die Wohnung, ist nicht besonders unterhaltsam. Gegen acht Uhr abends schaltet Legendre den Fernseher an, um »das Communiqué« zu hören, wie er die Nachrichtensendung zu nennen pflegt. Doch bis dahin sitzt er am Fenster. Er hat gehört, wie ein ihm unbekannter Mann, den er zuvor aus der Rue Dupuytren hat kommen sehen, das Haus betreten hat. Da er noch sehr beweglich ist und gut sieht, schleicht er sich zur Wohnungstür und späht durch den Spion. Er sieht den Mann, der schweigend an der Wohnungstür der Nachbarin gegenüber lauscht. Léonce, der wegen seiner Langeweile neugierig geworden ist, beobachtet den Fremden. Merkwürdig , überlegt er. Ich habe ihn nicht läuten hören. Aber ich glaube, die junge Frau ist zu Hause . Léonce hat nicht den Mut, die Tür zu öffnen und den Unbekannten zur Rede zu stellen. Vielleicht ist er ihr Liebhaber. Ich darf mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen .
    Der Mann wendet sich zum Gehen. Léonce beobachtet ihn. Es sieht fast so aus, als schaue er zu mir hinüber , denkt Léonce und geht zum Fenster hinüber, um zu sehen, welche Richtung der Mann einschlägt.
    Der Mann ist stehen geblieben und beobachtet die Tür von Legendres Wohnung. Léonce hat mit der Hand an seinem Spion ein Geräusch gemacht, das die Aufmerksamkeit des Mannes erregt. Plötzlich wird in einem der oberen Stockwerke eine Tür geöffnet. Auf der Treppe sind Stimmen und Schritte zu hören. Der Mann entschließt sich, seinen Posten zu verlassen. Die große Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Ruhig und ohne sich umzudrehen verlässt er den Schauplatz. Im Rücken spürt er die Blicke des Neugierigen. Der Mann bezieht diese Unwägbarkeit in seine Überlegungen mit ein. Léonce ist der Ansicht, dass der Unbekannte lange gebraucht hat, ehe er das Haus verließ. Er zuckt die Schultern und sucht nach etwas anderem Interessanten in der ruhigen Rue Dupuytren. Manchmal beobachtet er die Kunden eines Frisiersalons, den er von seinem Fenster aus sehen kann, doch am Sonntag ist dort nichts los. Nur Touristen schlendern durch die Straße.
    Im Gehen setzt der Mann seine Wasserflasche an den Mund. Drei Liter hat er bestimmt an diesem Tag schon getrunken. Mittags hat er sich mit einem belegten Brötchen und einem Bier begnügt und noch eine Tegretol eingenommen. Das Medikament, das seine Schmerzen unterdrücken soll, verursacht ihm einen trockenen Mund.
    Zwanzig Minuten später ist er in der Rue Madame, immer noch im 6. Arrondissement. Als er vor dem Wohnhaus eintrifft, sieht er die junge Frau, die er schon einige Tage zuvor ausfindig gemacht hat, direkt auf sich zukommen. Er reagiert nicht. Sie geht an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Sie ist allein. Die Hitze setzt ihr zu. Der Mann dreht sich nicht um. Erst fünfzig Meter weiter bleibt er stehen und lehnt sich gegen ein Auto. Wenig später erscheint die junge Frau an ihrem Fenster, wo sie zerstreut eine Zigarette raucht.
    Zufrieden setzt der Mann seinen Weg fort. Noch immer trägt er seine Kappe, deren Schirm er tief in die Stirn gedrückt hat; die Sonnenbrille hat er abgenommen. Zum wiederholten Mal wischt er sich das Gesicht mit dem Handtuch ab. Dabei spürt er, dass das Nasenbluten wieder einsetzt. Er legt den Kopf in den Nacken, zerreißt ein Papiertaschentuch und stopft sich kleine Pfropfen in die Nasenlöcher. Jetzt ist er gezwungen, durch den Mund zu atmen. Das ist zwar unangenehm, aber nicht zu ändern.
    Schließlich beendet er seinen Rundgang in der Rue de Seine. Das Wohnhaus ist alt und liegt an der Ecke zur Rue des Beaux-Arts. Es ist frisch verputzt worden; die Gerüste sind fast komplett demontiert. Die Fensterläden der Wohnung, die er beobachtet, sind
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