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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau
Autoren: Fred Vargas
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zu zweit?«
    »Weil Sie zu sehr zweifeln, Veyrenc. Sie könnten mich ja beschuldigen, ich würde es beim Hacken zu Boden fallen lassen. Nein, ich gehe ein Stück weg, Hände in den Taschen, und schaue Ihnen zu. Auch wir beide werden ein Grab öffnen, um eine lebendige Erinnerung darin zu suchen. Aber ich glaube, mehr als fünfzehn Zentimeter kann es bestimmt nicht in die Erde eingedrungen sein.«
    »Vielleicht liegt es ja gar nicht hier«, sagte Veyrenc. »Jemand kann es drei Tage später gefunden und eingesteckt haben.«
    »In dem Fall hätte man es erfahren. Erinnern Sie sich, daß die Bullen nach dem Namen des fünften Kerls suchten. Hätte man mein Messer gefunden, mit meinen Initialen darauf, wäre ich geliefert gewesen. Aber sie haben diesen fünften Kerl nie identifiziert, und ich habe geschwiegen. Ich konnte nichts beweisen. Wenn meine Geschichte stimmt, liegt das Messer also noch immer hier, seit vierunddreißig Jahren. Ich hätte nie freiwillig auf mein Messer verzichtet. Daß ich es nicht aufgehoben habe, liegt daran, daß ich es nicht konnte. Ich war gefesselt.«
    Veyrenc zögerte, dann stand er auf und griff sich die Hacke, während Adamsberg einige Meter hinter ihn zurücktrat. Die Erdoberfläche war hart, und der Lieutenant grub länger als eine Stunde unter dem Nußbaum, wobei er in regelmäßigen Abständen mit den Fingern durch die Erdschollen fuhr und sie zerbröckelte. Dann sah Adamsberg, wie er die Hacke losließ und einen Gegenstand aufhob, von dem er die Erde abputzte.
    »Hast du es?« fragte er und kam näher. »Kannst du irgendwas lesen?«
    »JBA«, sagte Veyrenc und wischte den Griff mit seinem Daumen sauber.
    Wortlos reichte er Adamsberg das Messer. Verrostete Klinge, der Lack am Griff abgeplatzt, doch die eingekerbten Initialen, schwarz von Erde, waren vollkommen lesbar. Adamsberg ließ es zwischen seinen Fingern kreisen, dieses Messer, dieses verfluchte Messer, dem es nicht gelungen war, den Strick durchzuschneiden, dieses verfluchte Messer, das ihm nicht geholfen hatte, das blutüberströmte Kind Rolands Händen zu entreißen.
    »Wenn du willst, gehört es dir«, sagte Adamsberg und reichte es dem Lieutenant, wobei er achtgab, daß er es ihm mit dem Griff voran übergab. »Als Zeichen unser beider Ohnmacht an jenem Tag.«
    Veyrenc nickte und nahm an.
    »Du schuldest mir zehn Centimes«, fügte Adamsberg hinzu.
    »Wofür?«
    »Das ist Tradition. Wenn man jemandem einen scharfen Gegenstand schenkt, muß derjenige zehn Centimes dafür geben, so schaltet er das Risiko einer Verwundung aus. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir durch meine Schuld ein Unglück geschähe. Du behältst das Messer, ich nehme die Münze.«

66
    Auf der Heimfahrt im Zug stand Veyrenc eine letzte Sorge ins Gesicht geschrieben.
    »Als Dissoziierter«, sagte er düster, »weiß man nicht, was man tut, oder? Man radiert jegliche Erinnerung aus?«
    »Im Prinzip ja, zumindest Ariane zufolge. Wir werden nie erfahren, ob sie uns die Komödie nur vorgespielt hat, um nichts gestehen zu müssen, oder ob sie eine echte Dissoziierte ist. Und ob es das überhaupt in solcher Vollkommenheit gibt.«
    »Wenn es das gäbe«, sagte Veyrenc und zog seine Lippe zu einem falschen Lächeln nach oben, »hätte ich dann Fernand und den Dicken Georges umbringen können, ohne es zu wissen?«
    »Nein, Veyrenc.«
    »Wie können Sie so sicher sein?«
    »Weil ich’s überprüft habe. Ich habe Ihren Terminkalender eingesehen, wie er auf Ihren Einsatzbefehlen vermerkt ist – von den Brigaden in Tarbes und Nevers, wo Sie zum Zeitpunkt der Morde waren. An dem Tag, als Fernand umgebracht wurde, haben Sie einen Trupp nach London begleitet. Und als Dicker Georges umgebracht wurde, standen Sie unter Arrest.«
    »Ach ja?«
    »Ja, wegen Beleidigung eines Vorgesetzten. Was hatte er Ihnen getan?«
    »Wie hieß er?«
    »Pleyel. Pleyel wie das Klavier, ganz einfach.«
    »Ja«, erinnerte sich Veyrenc. »Das war so ein Typ à la Devalon. Wir hatten einen Fall am Hals, in dem es um Machenschaften in der Politik ging. Anstatt seinen Job zu tun, hat er die Anweisungen der Regierung befolgt und den Prozeßverlauf mit gefälschten Unterlagen beeinflußt, so daß der Kerl entlastet wurde. Da habe ich mich zu ein paar harmlosen Versen ihm gegenüber hinreißen lassen, die ihm nicht gefielen.«
    »Erinnern Sie sich an sie?«
    »Nein.«
    Adamsberg holte sein Notizbuch hervor und blätterte darin.
    »Hier haben wir sie«, sagte er.
    » Der Hochmut der Mächtigen
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