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Die dritte Jungfrau

Die dritte Jungfrau

Titel: Die dritte Jungfrau
Autoren: Fred Vargas
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Kapelle von Camalès hinaufgeschoben. Gerade gelangten sie auf die Hochwiese. Zerstreut betrachtete Veyrenc das Feld um sich herum, die Gipfel der Berge. Er war nie auf diese Wiese zurückgekehrt.
    »Nun, da wir von unserem Mörderschatten befreit sind, können wir uns in den Schatten des Nußbaums setzen. Nicht allzu lange, denn wir wissen ja, wie verhängnisvoll er ist. Nur so lange, bis wir den Spinnenbiß aus der Welt geschafft haben. Setzen Sie sich, Veyrenc.«
    »Dahin, wo ich damals gelegen habe?«
    »Zum Beispiel.«
    Veyrenc ging fünf Meter weit und setzte sich im Schneidersitz ins Gras.
    »Den fünften Kerl, den unter dem Baum, sehen Sie ihn?«
    »Ja.«
    »Wer ist es?«
    »Sie.«
    »Ich. Ich bin dreizehn. Wer bin ich?«
    »Ein Bandenchef aus dem Dorf Caldhez.«
    »Das stimmt. Was mache ich?«
    »Sie stehen. Sie schauen dem Geschehen zu, ohne einzugreifen. Sie haben die Hände im Rücken verschränkt.«
    »Warum?«
    »Sie hatten eine Waffe oder einen Stock versteckt, was weiß ich.«
    »Sie haben Ariane gesehen, vorgestern, als sie mein Büro betrat. Sie hatte die Hände auf dem Rücken. Hielt sie eine Waffe?«
    »Das hat nichts damit zu tun. Sie trug Handschellen.«
    »Nun, das ist ein hervorragender Grund, die Hände auf dem Rücken zu haben. Ich war festgebunden, Veyrenc, wie eine Ziege an ihrer Leine. Ich war mit den Händen an den Baum gefesselt. Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, wieso ich nicht eingegriffen habe.«
    Veyrenc fuhr mehrmals mit der Hand durchs Gras.
    »Erzählen Sie.«
    Adamsberg lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm des Nußbaums, streckte seine Beine aus und ließ seine Arme von der Sonne bescheinen.
    »Es gab zwei rivalisierende Banden in Caldhez. Im unteren Dorf die Brunnen-Bande, die von Fernand dem Grindigen angeführt wurde, und oben die Bande vom Waschplatz, die wurde von mir und meinem Bruder angeführt.
    Keilereien, Rivalitäten, Verschwörungen, das alles beschäftigte uns sehr. Kinderspiele also, abgesehen davon, daß sich die Brunnen-Bande durch die Ankunft von Roland und einigen anderen Rekruten in eine Armee kleiner Dreckskerle verwandelte. Roland hatte die Absicht, die Waschplatz-Bande zu zerschlagen und das ganze Dorf an sich zu reißen. Der Krieg der Gangs, in kleinem Maßstab. Wir leisteten, so gut es ging, Widerstand, ich aber brachte ihn mehr als alles andere in Wut. An dem Tag, als sie gegen Sie loszogen, ist Roland zusammen mit Fernand und dem Dicken Georges zu mir gekommen. ›Wir nehmen dich mit zu der Vorführung, Blödmann‹, hat er zu mir gesagt. ›Du wirst deine Augen aufsperren und danach schön deine Schnauze halten. Weil, wenn du das Maul nicht hältst, machen wir das gleiche mit dir.‹ Sie haben mich zur Hochwiese geschleppt und mich an den Baum gebunden. Dann haben sie sich in die Kapelle verdrückt, wo sie auf dich gewartet haben. Nach der Schule kamst du ja immer dort vorbei. Sie haben sich auf dich gestürzt, den Rest kennst du.«
    Adamsberg merkte, daß er unwillkürlich zum Du übergegangen war. Als Kinder siezt man sich nicht. Und wie sie da zusammen auf der Hochwiese saßen, waren sie Kinder.
    »Hmh«, sagte Veyrenc und verzog das Gesicht, durchaus nicht überzeugt.
    »Ich hoffe, Ihr begreift, daß dies mein Mißtrau’n weckt.
    Denn was, wenn der Bericht voll schnöder Lügen steckt?«
    »Es war mir gelungen, mein Messer aus der Gesäßtasche herauszuziehen. Wie im Film versuchte ich, den Strick durchzuschneiden. Doch wir befinden uns nie in einem Film, Veyrenc. In einem Film hätte Ariane ein Geständnis abgelegt. In der Wirklichkeit aber hält ihre Wand. Die Stricke hielten ebenfalls, und ich schwitzte beim Schneiden. Die Klinge glitt mir aus den Händen, mein Messer fiel zu Boden. Als du ohnmächtig wurdest, banden sie mich eilig los und schleppten mich im Laufschritt auf den Chemin des Rocailles. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich wieder auf die Hochwiese traute, um nach meinem Messer zu suchen. Gras war gewachsen, der Winter war vorbei. Ich habe alles abgesucht, es aber nie wiedergefunden.«
    »Ist das schlimm?«
    »Nein, Veyrenc. Aber wenn die Geschichte stimmt, besteht die Chance, daß das Messer noch hier ist, irgendwo unter der Erde. Der Gesang der Erde, Veyrenc, erinnern Sie sich? Deshalb habe ich eine Hacke mitgebracht. Sie werden das Messer suchen. Seine Klinge müßte noch immer aufgeklappt sein, so wie es heruntergefallen ist. Ich hatte meine Initialen in den lackierten Holzgriff geritzt, JBA.«
    »Warum suchen wir es nicht
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