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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Autoren: Benjamin Constable
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vorbeikamen, sagten sie »Konnichiwa« und überreichten ihr die Blumen, für die sie sich bei einem nach dem anderen mit einem kleinen Nicken bedankte. Dann stand sie auf und drehte sich um, folgte langsam, die Blumen in den Händen, dem Pfad stromaufwärts, während das Wasser neben ihr über Felsen plätscherte, gurgelnde Wirbel formte und weiterrauschte. Sie ging weiter, in Richtung der Quelle, zurück zum Anfang.
    Ich schloss die Augen und hielt sie eine Weile einfach nur im Arm. Ich wusste, dass sie tot war, aber ich wollte noch nicht gehen, damit sie nicht allein war. So blieben wir ungefähr eine Stunde, schätze ich, in der Dunkelheit sitzen. Ich tastete ein letztes Mal nach ihrem Puls, doch da war nichts mehr.
    »Mach’s gut, Butterfly. Es war wirklich seltsam mit dir.«
    Ich legte sie in die stabile Seitenlage und ging. Nach ein paar Schritten drehte ich mich noch einmal um und kehrte zu ihr zurück. Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf und strich ihr übers Haar. »Schhh. Alles ist gut.« Und das war es auch; ich hatte bereits um sie getrauert. Ich war gefasst, fühlte mich leichter, vielleicht sogar gut.
    Als ich die Metrostation erreichte, waren von der Göttlichen Komödie noch ein paar Hundert Seiten übrig. Ich betrat den Bahnsteig von Buttes-Chaumont, doch alles lag verlassen da, das Licht war gedimmt. Ich ging die Treppe hinauf, wo mir ein Rollgitter den Weg nach draußen versperrte, also ging ich zurück auf den Bahnsteig, setzte mich und starrte an die Wand. Cat kam und rieb seinen Kopf an meinem Schienbein, dann legte er sich auf den Boden, halb über meine Zehen, und schlief ein. Es war schön, ihn zu sehen. Ich holte mein Handy aus der Tasche und schaltete es ein. Ich war neun Tage lang in den Katakomben gewesen. Das Telefon piepste und ein paar neue Textnachrichten trafen ein. Zwei von meiner Bank, die mich über meinen Kontostand informieren wollten, eine Erinnerung an eine Einladung zum Abendessen am vergangenen Samstag, zwei von Freunden, die sich erkundigten, ob ich verschollen sei, und drei von Beatrice: Hey, komme 10 Min. später , dann: Wo bist du?, und schließlich: Ben Constable? Ich war glücklich.
    Ich holte die Plastiktüte, die Butterfly mir gegeben hatte, aus der Tasche. Wie erwartet, fand ich darin ihre Notizbücher und außerdem einen Papierfisch mit ihrer hastig hingekritzelten Handschrift.
    Lieber Ben Constable,
    was für ein Abenteuer.
    Ich dürfte inzwischen tot sein, und diesmal wirklich. Aber ich nehme an, das weißt du, denn wenn alles nach Plan verlaufen ist, warst du bei mir. Ich habe einen Pakt mit mir geschlossen: Ich werde dir ein vergiftetes Bonbon anbieten. Wenn du es isst, stirbst du und ich bleibe in den Katakomben. Wenn nicht, muss ich dir nach draußen folgen, es sei denn, du drehst dich zu mir um. Wenn du das tust, esse ich das Bonbon und sterbe. Wenn du das hier liest, hast du dich zu mir umgedreht. Obwohl ich dir gesagt habe, du sollst es nicht tun. Du hast mich dazu getrieben, das Bonbon zu essen. Du hast mich umgebracht. Natürlich war das ein Trick, aber ich wollte einfach, dass du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden getötet hat. Jetzt weißt du es und damit noch ein bisschen mehr über mich.
    Wenn es überhaupt noch etwas bedeutet, dann tut es mir leid. Alles. Und jetzt geh und schreib das Buch.
    Dicker Kuss,
Butterfly. X O X O X O
X I X X C X X H X X L X X I X X E X X B X X E X X D X X I X X C X X H X X (Habe ich dir das eigentlich jemals gesagt?)
    PS: Ach, nichts …

E IN B RIEF AN T OMOMI I SHIKAWA
N OVEMBER 2008
    Paris, 27. November 2008
    Liebe Tomomi Ishikawa,
    manchmal zieht unsere Geschichte mich so tief in ihren Bann, dass ich nicht mehr weiß, was wahr ist und was nicht. Ich habe gar keine richtigen Erinnerungen mehr an dich; nur Erinnerungen an Erinnerungen. Du scheinst zu einem Teil meiner Fantasie geworden zu sein und ich weiß nicht mehr, wie du aussiehst oder wie deine Stimme klingt. Haben wir wirklich immer um fünf Uhr morgens zusammen in einer kleinen Kopfsteinpflasterstraße in Ménilmontant gesessen und geraucht? So oft haben wir das bestimmt gar nicht gemacht. Vielleicht hatten wir alles in allem ja gar keine so tolle Freundschaft, aber eine Zeit lang kam es mir so vor.
    Ich habe das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, für das Buch und dafür, dass ich dich gesucht habe, als du nicht gefunden werden wolltest, und dafür, dass ich dich umgebracht habe. Aber es ist ja nur eine Geschichte und du bist nicht tot und
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