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Die Dirne vom Niederrhein

Die Dirne vom Niederrhein

Titel: Die Dirne vom Niederrhein
Autoren: Sebastian Thiel
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Elisabeth eingeschüchtert auf die Lippen biss. »Zeig lieber Dankbarkeit.«
    Noch nie hatte jemand auf diese Weise mit ihr geredet. Ihre Mutter war früh verstorben und ihr Vater hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Erst versuchte Elisabeth, dem Blick der Frau standzuhalten, doch es dauerte nicht lange, bis sie ihr Haupt senkte: »Danke schön.«
    »So ist es besser«, sagte die Frau und streichelte ihre Wangen.
    An ihrem Blick erkannte Elisabeth, dass die Fremde ein gütiges Herz hatte. Genau wie Antonella. Bei diesem Gedanken wurde ihr Gemüt schwer.
    »Sagst du mir deinen Namen?«
    »Ich heiße Elisabeth. Elisabeth Dannen aus Kempen.«
    Ruhig nickte die Frau. »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Die Bewohner haben tapfer gekämpft, konnten die Hessen mehrere Tage in Schach halten, schließlich fiel auch diese Gemeinde dem Krieg zum Opfer. Und du bist aus der Stadt geflohen, nur um dir das Leben zu nehmen?«
    Auf einmal waren die Erinnerungen wieder da. Die brennenden Häuser, die schreienden Männer, die ihre Säbel in die Höhe reckten und schreckliche Schatten an die Wände malten. Sie konnte nicht sagen, warum, aber diese fremde Frau hatte etwas Mütterliches an sich, dessen sie sich nicht erwehren konnte. Erst kämpfte sie noch mit den Tränen, schließlich drang ein leichtes Schluchzen über ihre Lippen.
    Die Frau streichelte über ihr Haar. »Wen hast du verloren, Kleines?«
    In dem Augenblick brachen die Dämme. Elisabeth war sich sicher, dass sie alle Tränen vergossen hatte, doch nun rollten sie in dicken Tropfen über ihre Wangen. »Meinen Vater und meine Schwester.«
    Ihre Blicke trafen sich, behutsam nahm die Frau Elisabeth in den Arm. Für einen Herzschlag erschrak sie. Die Frau war eine Fremde, jemand, den sie kaum kannte. Die Berührung tröstete.
    »Wir haben alle jemanden verloren, Kindchen. Der Krieg holt aus uns Menschen das Schlimmste hervor«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Doch wir dürfen uns davon nicht unterkriegen lassen. Wir müssen weitermachen, hörst du?«
    Elisabeth nickte und wollte sich aufrichten. Augenblicklich drehte sich alles um sie herum.
    »Ruhe dich noch ein wenig aus«, sagte die Frau und drückte Elisabeth wieder auf das Bett. »Anscheinend bleiben wir noch ein paar Tage hier in Neuß. Umso mehr einsame Männer in der Stadt sind, desto mehr verdienen wir. Und derzeit verdienen wir viel.«
    Obwohl sich bereits der düstere Schleier der Müdigkeit über Elisabeths Augen legte, arbeitete ihr Verstand noch immer. Ihre Stimme zitterte und war kaum mehr im Raum zu vernehmen. »Du bist also …«
    »… eine Hure, ja. Obwohl ich unsere Mädchen nicht gerne so nenne. Jeder muss in diesen Zeiten schauen, wie er über die Runden kommt. Ich und meine Mädchen leben derzeit vorzüglich«, sie zuckte mit den Schultern. »Wenigstens eine gute Sache, die der Krieg mit sich bringt.«
    Elisabeth wollte etwas erwidern, doch sofort spürte sie einen Finger auf ihren Lippen.
    »Und jetzt ist Schluss. Schlaf noch ein wenig, heute Abend gibt es für dich eine richtige Mahlzeit und dann sehen wir weiter.«
    Langsam erhob sich die Frau und ging die wenigen Schritte bis zur Tür. Unter ihrem Gewicht knarrten die Holzbalken des Wagens. »Ich bin übrigens Roswitha, aber nenn mich Rosi.«

    *

    Maximilians Träume waren dunkel. Im Schlaf meinte er, hundert Empfindungen gleichzeitig zu fühlen. Doch sie ließen ihn nicht hochschrecken, als wäre er in einem Labyrinth seiner eigenen Gedanken gefangen. Erst ein Schwall Wasser, der sich in sein Gesicht ergoss, riss ihn aus seinen Albträumen.
    »Gut, du bist also am Leben.«
    Von grauenvollen Bildern geplagt, hatte sein Herz eben noch schnell in seiner Brust geschlagen und drohte, vor Schreck zu zerspringen. Hastig atmend sah er sich um und blickte in die Augen einer groß gewachsenen Nonne. Die spitzen Gesichtszüge erinnerten ihn an eine Maus, passten jedoch gut in das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen.
    »Wie heißt du, Bursche?«, wollte die Frau wissen. Sie klang hochmütig und arrogant. Ihre Tunika bestand aus eingefärbter grauer Schafswolle. Dazu trug sie das Skapulier, ein schürzenartiges Arbeitskleid aus einem schwarzen Tuchstreifen mit Kopfloch. In ihrer Hand baumelte ein leerer Eimer.
    Langsam kam Maximilian zu sich. Es war also kein Traum. Er hatte gestern wirklich Viersen erreicht. Die Sonne begrüßte die Stadt mit wärmenden Strahlen. Er musste blinzeln, um zu erkennen, dass er die Nacht vor einem Kloster verbracht
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