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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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einem grünen und stillen England leben, wenn die Maschinen zerstört und Byron und seine Industriellen Radikalen vollständig vernichtet wären …
    Aber ein Hanfstrick hatte ihren Vater bis zum endgültigen Verstummen gewürgt. Die Radikale Partei regierte weiter und weiter, zog von Triumph zu Triumph, behandelte die Welt wie ein Kartenspiel. Und nun war Mick Radley in dieser Welt aufgestiegen, und Sybil Gerard war unten.
    Sie stand schweigend da, in Micks Wintermantel gewickelt. Paris. Das Versprechen verlockte sie, und wenn sie ihm Glauben schenken wollte, dann musste es eine aufregende Sache sein, ein Abenteuer. Sie zwang sich, an die Aufgabe ihres Lebens in London zu denken. Es war ein schlechtes, ein niedriges, ein schmutziges Leben, das wusste sie, aber nicht ein Leben in verzweifelter Armut. Sie hatte noch Dinge zu verlieren. Ihr gemietetes Zimmer in Whitechapel und den lieben Toby, ihren Kater. Da war Mrs. Winterhalter, die Begegnungen zwischen leichten Mädchen und politischen Herren arrangierte. Mrs. Winterhalter war eine Kupplerin, aber damenhaft und verlässlich, und Kupplerinnen ihrer Art waren schwierig zu finden. Auch würde sie ihre beiden festen Herren verlieren, Mr. Chadwick und Mr. Kingsley, die sie jeweils zweimal im Monat besuchten. Das waren regelmäßige Einnahmen, die sie von der Straße fernhielten. Aber Chadwick hatte eine eifersüchtige Frau in Fulham, und in einem Augenblick gedankenloser Torheit hatte Sybil Kingsleys beste Manschettenknöpfe gestohlen. Sie wusste, dass er sie verdächtigte.
    Und keiner von beiden war nur halb so freigiebig wie Stutzer Mick.
    Sie zwang sich, ihn anzulächeln, so süß sie konnte. »Du bist ein närrischer Kauz, Mick Radley. Du weißt, dass du die Fäden in der Hand hältst, an denen ich hänge. Vielleicht war ich zuerst ärgerlich mit dir, aber ich bin nicht so dumm, dass ich einen feinen Herrn nicht erkenne, wenn ich ihn sehe.«
    Mick blies Rauch in die Luft. »Du bist wirklich ein kluges Kind«, sagte er bewundernd. »Du flunkerst wie ein Engel. Aber mich täuschst du nicht, also brauchst du dich selbst auch nicht zu täuschen. Trotzdem, du bist genau das Mädchen, das ich brauche. Komm wieder ins Bett.«
    Sie tat wie geheißen.
    »Großer Gott«, sagte er, »deine Füße sind wie Eisklumpen. Warum trägst du keine warmen Pantoffeln, hm?« Er zog ent schlossen an ihrem Korsett. »Pantoffeln und schwarze Seiden strümpfe«, sagte er. »Ein Mädchen mit schwarzen Seidenstrümpfen macht sich glänzend im Bett.«
    Am anderen Ende des mit Glas abgedeckten Ladentisches stand einer von Aarons Verkäufern hochmütig und groß in seinem sauberen schwarzen Rock und den polierten Stiefeln und beobachtete Sybil mit kaltem Blick. Er wusste, dass etwas faul war – er hatte es in der Witterung. Sybil wartete, dass Mick bezahlte, hatte die Hände bescheiden vor sich auf dem Rock zusammengelegt, spähte aber aus den Augenwinkeln unter dem blauen Saum ihrer Haube hervor. Unter ihrem Rock, durch den Rahmen ihrer Krinoline gezogen, war der Schal, den sie gemopst hatte, während Radley Zylinderhüte anprobiert hatte.
    Sybil hatte gelernt, wie man Dinge entwendete – sie hatte es sich selbst gelehrt. Es erforderte bloß Nerven, das war das Geheimnis. Und Mut war nötig. Nicht nach links und nicht nach rechts blicken – einfach zupacken, den Rock heben und hineinstopfen. Dann ganz gerade dastehen, mit einem Gesicht wie beim Psalmensingen, so wie ein Mädchen aus gutem Haus.
    Der Verkäufer verlor das Interesse an ihr; er beobachtete einen dicken Mann, der Hosenträger mit Seidenstickerei befingerte. Sybil überprüfte rasch ihren Rock. Keine verräterische Wölbung war zu sehen.
    Ein junger, pickliger Verkäufer mit tintenfleckigen Daumen setzte Micks Nummer in eine auf dem Ladentisch stehende Kreditmaschine. Zip, klick, ein Zug am Hebel mit Ebenholzgriff – fertig. Er gab Mick seine gedruckte Quittung, verpackte den Hut in steifes grünes Papier und verschloss das Paket mit einem Bindfaden.
    Aaron & Son würden einen Kaschmirschal nicht vermissen. Vielleicht würden ihre Buchhaltungsmaschinen es bei der Inventur feststellen, aber der Verlust konnte sie nicht schmerzen: Ihr Einkaufspalast war zu groß und zu reich. All diese griechischen Säulen, Kronleuchter aus irischem Kristall, eine Million Spiegel – ein vergoldeter Raum nach dem anderen, vollgestopft mit Reitstiefeln und französischer Seife, Spazierstöcken, Schirmen, Besteck, verschlossenen Glasvitrinen mit
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