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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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die Sybil für eine Patentmedizin hielt, denn an jedem Fläschchen klebte ein blaues Etikett mit der Abbildung eines Indianers.
    »Und was soll das sein, Mutter?«, fragte Mick und tippte mit einem behandschuhten Finger auf einen der mit rotem Wachs verschmierten Korken.
    »Steinöl, Mister«, sagte sie und nahm die Stummelpfeife aus dem Mund. »Ziemlich dasselbe wie Bergteer.« Ihr nasal gedehnter Akzent war dem Ohr unangenehm, aber Sybil verspürte Mitleid. Wie weit entfernt musste diese Frau von dem ausländischen Ort sein, den sie einmal ihre Heimat genannt hatte.
    »Wirklich?« Mick gab sich vage interessiert. »Kommt es vielleicht aus Texas?«
    »Ein gesunder Balsam aus dem heimlichen Quell der Natur«, sagte die Alte. »Bringt dem Menschen die Blüte der Gesundheit und des Lebens. Es wird von den wilden Seneca-Indianern von den Wassern des Ölflusses in Pennsylvanien geschöpft, Mister. Drei Pennies das Fläschchen, ein garantiertes Allheilmittel.« Die Frau blinzelte mit einem sonderbaren Ausdruck zu Mick auf, die hellen Augen eingebettet in Nester von Falten und Runzeln, als versuchte sie, sich seines Gesichts zu erinnern. Sybil fröstelte.
    »Dann noch einen guten Tag, Mutter«, sagte Mick mit einem Lächeln, das Sybil irgendwie an einen Beamten der Sittenpolizei erinnerte, den sie gekannt hatte, einen blonden kleinen Mann, der Leicester Square und Soho bearbeitete; den »Dachs« hatten die Mädchen ihn genannt.
    »Was für ein Zeug ist das?«, fragte sie Mick, als sie sich erneut bei ihm einhakte. »Was verkauft die Frau?«
    »Steinöl«, sagte Mick, und sie fing einen scharfen Blick auf, den er über die Schulter zu der gebeugten schwarzen Gestalt warf. »Der General erzählt, in Texas sprudele es nur so aus dem Boden …«
    »Ist es wirklich ein Allheilmittel?«
    »Keine Ahnung«, sagte er. »Aber jetzt Schluss mit dem Geplauder.« Er spähte die schmale Straße hinunter. »Ich sehe einen, und du weißt, was du zu tun hast.«
    Sybil nickte und arbeitete sich durch das Marktgewühl zu dem Mann, den Mick auserkoren hatte. Es war ein Balladenverkäufer, hager und hohlwangig, mit langem, fettigem Haar unter einem hohen Zylinderhut, den er mit bunt getüpfeltem Stoff bezogen hatte. Die Finger hatte er wie im Gebet ineinandergesteckt, und die Ärmel seiner zerknitterten Jacke waren schwer von den langen, raschelnden Lagen der Musikblätter, die er verkaufte.
    »›Die Eisenbahn zum Himmel‹, meine Damen und Herren«, rief der Balladenverkäufer, offenbar ein Veteran seines Faches. »›Von göttlicher Wahrheit sind die Schienen, und auf dem Felsen Petri verlegt, fest wie der Thron Gottes.‹ Ein schönes Lied, und nur zwei Pence, Miss.«
    »Haben Sie ›Die Raben von San Jacinto‹?«, fragte Sybil.
    »Kann ich bekommen, kann ich bekommen«, sagte der Verkäufer. »Und was soll das sein?«
    »Über die Schlacht in Texas, den großen General.«
    Der Balladenverkäufer zog die Brauen hoch. Seine Augen waren blau und hatten einen verrückten Glanz, vielleicht vor Hunger oder von religiösem Wahn. »Einer von den Krim-Generalen, ein Franzose vielleicht, dieser Mr. Jacinto?«
    »Nein, nein.« Sybil schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »General Houston. Sam Houston aus Texas. Ich möchte ganz besonders dieses Lied.«
    »Ich kaufe meine Veröffentlichungen heute Nachmittag frisch, und ich werde für Sie nach Ihrem Lied Ausschau halten, Miss.«
    »Ich brauche mindestens fünf Exemplare für meine Freunde«, sagte Sybil.
    »Für zehn Pence bekommen Sie sechs.«
    »Dann also sechs, und heute Nachmittag, an dieser Stelle.«
    »Wie Sie sagen, Miss.« Der Verkäufer tippte an seine Hutkrempe.
    Sybil ging weiter durch die Menge. Sie hatte es geschafft. Es war nicht so schlimm, und sie meinte, dass sie sich daran gewöhnen könnte. Vielleicht war es auch ein gutes Lied, eines, das den Leuten Freude machen würde, wenn der Balladenmann gezwungen wäre, die Kopien zu verkaufen. Plötzlich erschien Mick an ihrer Seite.
    »Nicht schlecht«, sagte er, griff in die Tasche seines Wintermantels und zog wie ein Zauberer einen Bratapfel hervor, noch heiß, mit abblätternder Zuckerkruste und in fettiges Papier gewickelt.
    »Danke«, murmelte sie, erschrocken, aber froh, denn sie hatte daran gedacht, irgendwo im Verborgenen stehen zu bleiben und den gestohlenen Schal aus der Krinoline zu ziehen, aber wie es schien, hatte Mick sie keinen Moment aus den Augen gelassen. Sie hatte ihn nicht gesehen, aber er hatte sie beobachtet; das
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