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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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zu dem brokatbezogenen Sessel in der Ecke und zog an Micks Wintermantel. Mittlerweile fröstelte sie derart, dass sie zitterte; schnell fuhr sie in den Mantel. Feine dunkle Wolle; es war, als wäre sie in warmes Geld gehüllt.
    »In der rechten Brusttasche«, sagte Mick. »Die Brieftasche.« Er war erheitert und zuversichtlich – als ob es lustig wäre, dass sie ihm nicht traute. Sybil steckte ihre kalten Hände in beide Taschen. Tief, mit Samt gefüttert …
    Ihre linke Hand fühlte einen Klumpen hartes, kaltes Metall. Sie zog eine garstige kleine Derringer-Pistole heraus. Mit Elfenbein eingelegter Kolben, komplizierter Mechanismus aus Stahlhämmern und Messingpatronen, klein wie ihre Hand, aber schwer.
    »Nicht doch«, sagte Mick stirnrunzelnd. »Steck das Ding wieder ein.«
    Sybil tat wie geheißen, vorsichtig und schnell, als wäre es eine lebendige Krabbe. In der anderen Tasche fand sie seine Brieftasche aus rotem Maroquinleder; darin waren Geschäftskarten mit seinem maschinell punktierten Porträt sowie ein Londoner Zugfahrplan.
    Und sie fand einen in Stahlstich ausgeführten Fahrschein erster Klasse auf steifem beigefarbenen Pergament für die Kanalfähre Newcomen ab Dover.
    »Dann wirst du zwei Fahrkarten brauchen«, sagte sie zögernd. »Wenn du mich wirklich mitnehmen willst.«
    Mick nickte. »Und eine weitere Fahrkarte für den Zug von Cherbourg nach Paris. Nichts einfacher als das. Ich kann die Fahrkarten unten am Empfang telegrafisch bestellen.«
    Sybil fröstelte und zog den Mantel fester um sich. Mick lachte sie aus. »Komm mir nicht mit dieser essigsauren Visage. Du denkst immer noch wie eine Straßendirne; hör auf damit! Fang an, groß und glänzend zu denken, sonst kann ich dich nicht gebrauchen. Du bist jetzt Micks Mädchen – ehrgeizig, mit hochfliegenden Plänen.«
    Langsam und widerwillig sagte sie: »Ich bin nie mit einem Mann zusammen gewesen, der wusste, dass ich Sybil Gerard bin.« Das war natürlich eine Lüge – da gab es Egremont, der Mann, der sie ruiniert hatte. Charles Egremont hatte recht gut gewusst, wer sie war. Aber Egremont war nicht mehr wichtig – er lebte jetzt in einer anderen Welt, mit seiner pogesichtigen respektablen Frau und seinen respektablen Kindern und seinem respektablen Sitz im Unterhaus.
    Und Sybil hatte mit Egremont nicht als Dirne geschlafen: nicht gänzlich jedenfalls. Eine Frage des Grades …
    Sie sah Mick an, dass er über die Lüge, die sie ihm erzählt hatte, erfreut war. Sie hatte ihm geschmeichelt.
    Mick öffnete ein schimmerndes Zigarrenetui, zog einen Stumpen heraus und entzündete ihn in der öligen Flamme eines Repetierzündholzes. Der süßliche Geruch von Kirschtabak breitete sich im Raum aus.
    »Und nun fühlst du dich ein bisschen schüchtern mit mir, richtig?«, fragte er schließlich. »Nun, ich ziehe es so vor. Was ich weiß, verschafft mir ein bisschen mehr Einfluss auf dich als bloßes Geld, nicht wahr?«
    Seine Augen wurden schmal. »Es kommt darauf an, was einer weiß, nicht wahr, Sybil? Mehr als auf Land oder Geld, mehr als auf die Geburt. Information. Das ist es, was zählt.«
    Sybil verspürte eine Aufwallung von Hass auf ihn, wegen seiner Ungezwungenheit und seines Selbstvertrauens. Es war eine scharfe und instinktive Abneigung, doch gelang es ihr letztlich, das Gefühl zu unterdrücken. Der Hass schwankte, verlor seine Schärfe, wurde zu Scham. Sie hasste ihn wirk lich – aber nur, weil er sie jetzt kannte. Er wusste, wie tief Sybil Gerard gefallen war, dass sie einmal ein Mädchen mit guter Erziehung und Ausbildung gewesen war, mit Benehmen und Anmut, so gut wie jedes Mädchen von Stand.
    Aus den ruhmreichen Tagen ihres Vaters, aus ihrer Mädchenzeit kannte Sybil seinesgleichen. Sie wusste, was für eine Art von Junge er gewesen war. Zerlumpte, zornige Fabrikjungen, wie sie für einen Penny das Dutzend herumliefen, die ihren Vater nach seinen im Fackelschein gehaltenen Ansprachen umdrängten und alles taten, was er befahl: Eisenbahnschienen aufreißen, die Kesselventile von Spinnereien abschlagen, ihm Polizistenhelme zu Füßen legen. Sie und ihr Vater waren von Stadt zu Stadt geflohen, oft bei Nacht, hatten in Kellern, Dachböden, anonymen Herbergen gelebt, sich vor der Polizei und den Dolchen anderer Verschwörer versteckt. Und manchmal, wenn seine eigenen wilden Brandreden ihn mit einem Hochgefühl erfüllt hatten, hatte er sie in die Arme geschlossen und ihr allen Ernstes die Welt versprochen. Sie würde wie eine Adlige in
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