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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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war seine Art. Sie würde es nicht wieder vergessen.
    So gingen sie, mal zusammen und mal getrennt, die ganze Somerset Street hinunter und dann durch den weitläufigen Markt in der Petticoat Lane, der nun, als es Abend wurde, von Lichtern erstrahlte. Der warme Schein von Gas-Glühstrümpfen wetteiferte mit dem grellen weißen Licht von Karbidlampen, rauchenden Talglichtern und Öllampen, die zwischen den feilgehaltenen Lebensmitteln der Marktstände flackerten. Der Lärm war hier ohrenbetäubend, aber sie erfreute Mick, indem sie drei weitere Balladenverkäufer hereinlegte.
    In einem weiträumigen, hell beleuchteten Ginpalast mit schimmernden Goldtapeten an den Wänden und Gaslampen in fischschwänzigen Wandleuchtern entschuldigte sich Sybil und suchte die Damentoilette auf. Dort, in der Sicherheit einer stinkenden Kabine, holte sie den Schal hervor. So weich war er, und von solch einem hübschen violetten Farbton, eine von diesen neuen Farben, die kluge Leute aus Kohle machten. Sie legte den Schal säuberlich zusammen und steckte ihn von oben in ihr Korsett, sodass er sicher verwahrt war. Dann wieder hinaus zu ihrem Hüter, der Platz an einem Tisch gefunden und ein Glas Honiggin für sie bestellt hatte. Sie setzte sich zu ihm.
    »Du hast deine Sache gut gemacht, Mädchen«, sagte er und schob ihr das kleine Glas hin. Das Lokal war voll von Krimsoldaten auf Urlaub, zumeist Iren, an die sich Straßendirnen gehängt hatten, vom Gin rotnasige Gesichter, die betrunken durcheinandergrölten und -kreischten. Hier gab es keine Barmädchen, sondern große, stämmige Schlägertypen von Barmännern in weißen Schürzen, mit dicken Holzprügeln unter der Theke.
    »Gin ist ein Hurengetränk, Mick.«
    »Alle mögen Gin«, sagte er. »Und du bist keine Hure, Sybil.«
    »Straßenmädchen, Dirne.« Sie sah ihn scharf an. »Wie sonst würdest du mich dann nennen?«
    »Du bist jetzt bei mir«, sagte er, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und hakte die behandschuhten Daumen in die Armlöcher seiner Weste. »Du bist eine Abenteurerin.«
    »Abenteurerin?«
    »Ganz recht.« Er richtete sich auf. »Auf dein Wohl.« Er trank von seinem Twist, einer Mischung aus Gin und Brandy, rollte ihn mit unglücklicher Miene auf der Zunge und schluckte. »Mach dir nichts daraus, Liebes – sie haben dieses Zeug mit Terpentin verschnitten, oder ich bin ein Jude.« Er stand auf.
    Sie gingen. Sybil hängte sich an seinen Arm und versuchte, ihn dazu zu bringen, etwas langsamer zu gehen. »Dann bist du ein ›Abenteurer‹, nicht wahr, Mr. Mick Radley?«
    »So ist es, Sybil«, sagte er mit halblauter Stimme, »und du wirst mein Lehrling sein. Du tust mit der angemessenen Bescheidenheit, was dir gesagt wird, und lernst die Kniffe des Handwerks. Und eines Tages trittst du der Gewerkschaft bei, nicht? Der Gilde.«
    »Wie mein Vater, was? Willst du ein Spiel daraus machen, Mick? Wer er war, wer ich bin?«
    »Nein«, erwiderte er. »Er war altmodisch, er ist heute niemand mehr.«
    Sybil lächelte. »Du meinst, sie lassen uns schlechte Mädchen in deine feine Gilde eintreten, Mick?«
    »Es ist eine Gilde des Wissens«, sagte er in nüchternem Ton. »Die da oben können uns alles wegnehmen. Mit ihren verdammten Gesetzen und Fabriken und Gerichtshöfen und Banken … Sie können die Welt zu ihrem Vergnügen einrichten, und sie können dir das Heim und deine Verwandten und sogar die Arbeit wegnehmen, die du tust …« Mick zuckte unter dem dicken Stoff des Wintermantels zornig mit den Achseln. »Und berauben die Tochter eines Helden ihrer Tugend, wenn ich so sagen darf.«
    Er drückte ihre Hand mit festem Griff gegen seinen Ärmel. »Aber sie können dir niemals wegnehmen, was du weißt , verstehst du, Sybil?«
    Sybil hörte Hettys Schritte im Gang vor ihrem Zimmer, dann das Rasseln von Hettys Schlüssel in der Tür. Sie ließ die Serenette mit einem schrillen Geräusch verstummen.
    Hetty zog die schneebedeckte wollene Haube vom Kopf und nahm den marineblauen Umhang von den Schultern. Sie war auch eines von Mrs. Winterhalters Mädchen, eine grobknochige, heisere Brünette aus Devon, die zu viel trank, aber in ihrer Weise liebenswürdig war. Und immer gut zu Toby.
    Sybil klappte die Kurbel mit dem Porzellanhandgriff ein und schloss den zerkratzten Deckel des billigen Instruments. »Ich hatte geübt. Mrs. Winterhalter möchte, dass ich nächsten Donnerstag singe.«
    »Die alte Schlampe«, sagte Hetty. »Dachte, heute wäre deine Nacht mit Mr. C., oder ist es Mr. K.?«
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