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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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gebogenen Rücken. Es hatte mindestens die Größe eines Elefanten, doch war der abscheuliche kleine Kopf kaum größer als der eines Hundes.
    Hetty schenkte den Tee ein. »Reptilien beherrschten die ganze Erde?« Nachdenklich fädelte sie einen Faden ein. »Ich glaube kein Wort davon.«
    »Warum nicht?«
    »Das sind die Gebeine von Riesen, aus der Genesis. Das sagen die Geistlichen, oder?«
    Sybil sagte nichts. Eine Vermutung kam ihr so phantastisch vor wie die andere. Sie wandte sich einem zweiten Artikel zu, der die Artillerie Ihrer Majestät auf der Krim pries. Eine Litho grafie zeigte zwei stattliche Unteroffiziere, welche die Funktionsweise einer Kanone mit großer Reichweite bewunderten. Die Kanone selbst, mit einem Rohr wie ein Fabrikschornstein, sah aus, als könnte sie mit sämtlichen Dinosauriern Lord Darwins kurzen Prozess machen. Sybils Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem Nebenbild abgelenkt, das die Maschinerie des Geschützes zeigte. Die komplizierten, ineinandergreifenden Zahnräder und Pleuelstangen waren von einer eigentümlichen Schönheit, wie ein barockes Tapetenmuster.
    »Hast du was zu nähen?«, fragte Hetty.
    »Nein, danke.«
    »Dann lies ein paar Anzeigen vor«, meinte Hetty. »Ich hasse diesen kriegerischen Humbug.«
    Da gab es Reklame für Porzellan aus Limoges, Frankreich; dann VIN MARIANI , ein französisches Stärkungsmittel, mit einer Empfehlung von Alexandre Dumas und den Porträts und Unterschriften von bekannten Persönlichkeiten, die das Mittel in den Geschäftsräumen in der Oxford Street erstanden hatten. Eine andere Anzeige warb für ein Silberputzmittel, das nicht kratzte und angelaufenes Silber für lange Zeit wie neu scheinen ließ – anders als die herkömmlichen Polituren. Eine neuartige Fahrradglocke mit einem unverkennbaren Klang; Dr. Bayleys Lithiumwasser, das Brights Krankheit und die Veranlagung zur Kropfbildung heilte; Gurneys Taschendampfmaschine Regent , die an häusliche Nähmaschinen angeschlossen werden konnte. Diese letztere Anzeige weckte Sybils Aufmerksamkeit, aber nicht wegen ihres Versprechens, eine Nähmaschine für den Preis eines halben Pennys pro Stunde mit der doppelten Geschwindigkeit zu betreiben, die eine Nähmaschine mit Pedalantrieb erreichen konnte.
    Was sie interessierte, war eine Darstellung des geschmackvoll ornamentierten kleinen Dampfkessels, der mit Gas oder Paraffin beheizt wurde. Charles Egremont hatte seiner Frau eine solche Maschine gekauft. Sie war mit einem Gummischlauch ausgerüstet, der den abgelassenen Dampf ins Freie leiten sollte, indem man ihn unter ein Schiebefenster klemmte, aber Sybil hatte sich köstlich amüsiert, als ihr zu Ohren gekommen war, dass die kleine Maschine Madame Egremonts Salon in ein türkisches Dampfbad verwandelt hatte.
    Als sie die Zeitung durchgeblättert hatte, ging Sybil zu Bett. Gegen Mitternacht erwachte sie vom wilden rhythmischen Quietschen der Bettfedern in Hettys Zimmer.
    Es war halbdunkel im Garrick-Theater, staubig und kalt im Orchestergraben, den schäbigen Sitzreihen und der Galerie; aber unter der Bühne, wo Mick Radley war, herrschte stockfinstere Dunkelheit, und es roch nach Feuchtigkeit und Kalk.
    Micks Stimme drang unter ihren Füßen herauf: »Hast du schon einmal die Innereien eines Kinotrops gesehen, Sybil?«
    »Einmal, hinter der Bühne«, sagte sie. »In einer Konzerthalle in Bethnal Green. Ich kannte den Kerl, der es bediente, ein Locher.«
    »Ein Verehrer?«, fragte Mick. Seine hallende Stimme klang scharf.
    »Nein«, versicherte sie ihm schnell. »Ich versuchte mein Glück damals mit Gesang … aber es zahlte sich kaum aus.«
    Sie hörte das Klicken seines Feuerzeugs. Beim dritten Versuch ging es an und er entzündete einen Kerzenstummel. »Komm herunter«, befahl er. »Steh nicht da wie eine dumme Gans, die ihre Knöchel zur Schau stellt.« Sybil hob ihre Krinoline mit beiden Händen und tappte unbehaglich die steilen feuchten Stufen hinab.
    Mick streckte die Hand aus, um hinter einen hohen Bühnenspiegel zu greifen, eine riesengroße glänzende Scheibe aus versilbertem Glas, mit einem Postament auf Rädern und öligen Zahnrädern und abgenutzten hölzernen Kurbeln. Dann brachte er einen billigen schwarzen Mantelsack aus wasserdichtem Segeltuch zum Vorschein, setzte ihn sorgsam vor sich auf den Boden und kauerte nieder, um die dünnen Blechschnallen zu öffnen. Er zog einen Stoß perforierter Karten heraus, die mit rotem Papierband zusammengebunden waren. Sybil sah, dass noch
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