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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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mögen. Wir werden eine Locherin aus dir machen.«
    »Kann ich das wirklich? Kann ein Mädchen so etwas?«
    Mick lachte. »Hast du nie von Lady Ada Byron gehört? Der Tochter des Premierministers, der ›Königin der Maschinen‹?« Er ließ sie los, breitete beide Arme in Schauspielergebärde aus, dass sein Mantel sich wie Flügel öffnete. »Ada Byron, die wahre Freundin und Schülerin von Babbage höchstselbst! Lord Charles Babbage, der Vater der Differenz-Maschine, der Newton unseres modernen Zeitalters!«
    Sie starrte ihn an. »Aber Ada Byron ist eine Adlige!«
    »Du würdest dich wundern, wen unsere Lady Ada alles kennt«, erklärte Mick, nahm ein Päckchen Karten aus der Tasche und wickelte es aus seinem schützenden Papier. »Natürlich meine ich nicht die Leute, mit denen sie Tee trinkt, die zu ihren Gartenfesten kommen, aber Ada ist in ihrer mathematischen Art und Weise das, was du leichtlebig nennen würdest …« Er hielt inne. »Das soll nicht heißen, dass Ada die Beste wäre, weißt du. Ich kenne Locher in der Gesellschaft für Dampfintellekt, die selbst Lady Ada in den Schatten stellen. Aber sie besitzt Genius. Weißt du, was das bedeutet, Sybil? Genius zu besitzen?«
    »Was?« Sie hasste die leichtsinnige Selbstsicherheit in seiner Stimme.
    »Weißt du, wie die analytische Geometrie geboren wurde? Ein Kerl namens Descartes beobachtete eine Fliege an der Decke. Schon vor ihm hatten Millionen von Leuten Fliegen an der Decke beobachtet, aber erst René Descartes machte eine Wissenschaft daraus. Heute machen Ingenieure jeden Tag von seiner Entdeckung Gebrauch, aber ohne ihn wären wir vielleicht noch immer blind dafür.«
    »Was haben Fliegen für irgendwen zu bedeuten?«, wollte Sybil wissen.
    »Ada hatte einmal eine Einsicht, die Descartes’ Entdeckung gleichrangig war. Bisher hat noch niemand eine Verwendung dafür gefunden. Es ist das, was man reine Mathematik nennt.« Mick lachte. »›Rein‹. Weißt du, was das heißt, Sybil? Es heißt, dass man nichts damit anfangen kann.« Er rieb sich grinsend die Hände. »Niemand kann etwas Praktisches damit anfangen.«
    Micks händereibendes Vergnügen ging ihr auf die Nerven. »Ich dachte, du hasst den Adel.«
    »Ich hasse die Adelsprivilegien, alles, was nicht ehrlich verdient worden ist«, sagte er. »Aber Lady Ada ist, was sie ist, durch die Schärfe ihres Verstandes, nicht durch ihr blaues Blut.« Er steckte die Karten in eine versilberte Schiene an der Seite der Maschine, dann fuhr er plötzlich herum und umfasste ihr Handgelenk. »Dein Vater ist tot, Mädchen! Ich sage das nicht, um dich zu verletzen, aber die Ludditen sind tot wie kalte Asche. Gewiss, wir marschierten und tobten und eiferten, für die Rechte der Arbeiter und so weiter – schöne Worte, verstehst du? Aber Lord Charles Babbage machte Blaupausen, während wir Pamphlete machten. Und seine Blaupausen errichteten diese Welt.«
    Er schüttelte den Kopf. »Die Byron-Leute, die Babbage-Leute, die Industriellen Radikalen – ihnen gehört das Land! Sie besitzen uns, Mädchen – der ganze Globus ist zu ihren Füßen, Europa, Amerika, alles. Das Oberhaus ist voll von ihnen. Königin Victoria rührt keinen Finger, solange die Gelehrten und Kapitalisten nicht mit den Köpfen nicken.« Er zeigte auf sie. »Es hat keinen Sinn, länger dagegen anzukämpfen, und weißt du, warum? Weil die Radikalen fair spielen, oder jedenfalls fair genug, dass man damit leben kann. Und du kannst eine von ihnen werden, wenn du es klug anfängst! Du findest keine vernünftigen Männer, um solch ein System zu bekämpfen, da es ihnen zu sehr einleuchtet.«
    Mick klopfte sich an die Brust. »Aber das heißt nicht, dass du und ich allein draußen in der Kälte stehen müssen. Es heißt nur, dass wir schneller denken und die Augen und Ohren offenhalten müssen …« Mick nahm die Haltung eines Preisboxers ein: Ellbogen angewinkelt, Fäuste geballt, die Knöchel in Gesichtshöhe. Dann warf er sein Haar aus der Stirn und grinste sie an.
    »Das ist alles gut und schön für dich«, entgegnete Sybil. »Du kannst tun, was dir gefällt. Du warst einer der Anhänger meines Vaters – nun, davon gab es viele, und einige sind jetzt im Parlament. Aber gefallene Mädchen sind ruiniert, verstehst du? Ruiniert, und das bleiben sie.«
    Mick ließ die Arme sinken und sah sie stirnrunzelnd an. »Das ist genau, was ich meine. Du läufst jetzt mit der eleganten Welt, denkst aber wie eine Schlampe! In Paris weiß kein Mensch, wer du bist!
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