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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Annette Großbongardt
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zugefügt worden war, zu verharmlosen oder herunterzuspielen«, konstatiert der Historiker Schlögel. Ihn nervten beide Seiten, der »tiefe ressentimentgeladene, taktizistische Provinzialismus« von Funktionärsinteressen wie auch »die von keiner Ahnung getrübte moralisierende Besserwisserei vieler
Linker«. Die Erinnerungskultur war längst ein Politikum, das alle abstieß, die es nicht persönlich betraf.
    Es gab nie ein Tabu, aber viele Hemmungen. In seiner Generation, so der Osteuropaexperte Rogall, geboren 1959, habe die ganze Debatte zu einer Art »freiwilligem Tabu« geführt: »Man dachte, die Geschichte ist nun mal so gekommen, das ist ein abgeschlossenes Kapitel, da kann man nur etwas kaputtmachen in den Beziehungen zu den betroffenen Ländern, wenn man daran rührt.« Das ewige Gerede an der sonntäglichen Kaffeetafel über die Welt vor 1945 hatten sie gründlich satt. So bildete die deutsche Geschichte in Osteuropa »selbst zu Hause bei den Vertriebenen nicht mal einen Teil der Familienidentität, sondern es war nur die Geschichte von Oma oder Opa«, sagt Rogall. Er selbst reiste mit seinen Kindern, geboren 1992 und 1996, vergangenen Sommer in die schlesische Heimat des Opas. Da merkte er verdutzt, »die haben dazu wirklich gar keinen Bezug, das ist für sie einfach Polen«. Als sie zu Mittag aßen in Jelenia Góra, einst Hirschberg, am Fuß des niederschlesischen Riesengebirges, zeigte sein Sohn auf die alten Postkarten an der Wand und fragte: »Warum steht denn da alles auf Deutsch?« Für seine Kinder, sagt Rogall, sei die Geschichte des deutschen Ostens so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg. Bei seinen Studenten spürt der Universitätsprofessor ein rein geschichtliches Interesse: »Es hat nichts mit ihrer Identität als Deutsche zu tun.«
    Doch wie wurden diese Orte so fremd? Breslau, Königsberg, Danzig waren bedeutende Kultur- und Handelsstädte, aus Königsberg stammen Immanuel Kant und Käthe Kollwitz, Arthur Schopenhauer aus Danzig, aus Breslau Max Born und Käthe Kruse, Schlesien hat allein zwölf deutsche Nobelpreisträger hervorgebracht. Doch fühlen sich Deutsche deshalb mit den Städten verbunden?

    Die Distanz hat auch mit einem grundlegenden Wechsel der Blickrichtung zu tun. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Industrialisierung, fuhr der Zug nach Westen, »und er war nicht mehr aufzuhalten«, so Rogall. Preußen hatte Mühe, seine schönen Ansiedlungsprojekte mit Menschen zu füllen. Eine Fremdheit des Westens mit dem Osten, ja Überheblichkeit, gab es ja schon lange vor dem Krieg. Rogall erinnert sich an eine Postkarte vom Pfälzer Großvater, der in den zwanziger Jahren nach Danzig und Ostpreußen gereist war. »Alles ganz schön ostig hier«, schrieb er nach Hause, »so stell ich mir Russland vor.« Dabei war Osteuropa jahrhundertelang Einwanderungsland, in dem eben auch viele deutsche Migranten Glück und Wohlstand suchten – und fanden. Bis heute jedoch, so Rogall, gebe es teilweise in Deutschland noch die Vorstellung, im Osten herrsche nicht der gleiche Kulturstand: »Obwohl Estland etwa in vielen Bereichen fortschrittlicher ist als wir und Breslau eine Metropole, die absolut mit Köln oder Lyon vergleichbar ist.« Der Blick ging nach Westen, und da ist er noch immer: Frankreich, Italien, die USA wurden Lieblingsländer der Deutschen. Da fahren sie immer noch lieber hin, auch wenn Masuren nun als Insider-Tipp gilt und Skifahren in Polen billiger ist als in Österreich.
    Die »kulturelle Katastrophe«, die Schlögel mit dem Untergang des deutschen Ostens betrauert, empfinden wohl nur wenige in der deutschen Bevölkerung, die keine Vertriebenen-Geschichte haben. Da war auch etwas weg, das kompliziert war und belastend, um das ständig Krieg und Konflikt geherrscht hatten. Schon 1982 klagte der damalige Präsident des Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, die Schlesier und die Ostpreußen würden »zunehmend aus der deutschen Geschichte exkommuniziert«, zu den Gebieten jenseits von Oder und Neiße bestehe »im deutschen
Geschichtsbewusstsein gar kein Verhältnis mehr« – für viele lag das allerdings auch an der Politik der Vertriebenenverbände.
    »Die westdeutsche Urbevölkerung arbeitete… mehr am realen Wirtschaftswunder, als dass sie an ein Wunder an der Oder geglaubt hätte«, erklärt Manfred Kittel, Direktor der Berliner Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung«. Schnell wuchs die Bereitschaft, die verlorenen Gebiete abzuschreiben. Bereits 1967
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