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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Annette Großbongardt
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ursprünglich aus Frankreich stammenden Zisterzienser, waren Spezialisten darin, Land urbar zu machen, und deshalb regelrechte Entwicklungshelfer. Die Landwirtschaft erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Bislang hatten hölzerne Hacken oder Steinpflüge die Böden nur oberflächlich bearbeiten können,
die eisernen Räderpflüge der Neuankömmlinge griffen viel tiefer und schafften selbst schwere Böden. Und wenn die Slawen das Getreide noch mit einer Sichel geschnitten hatten, so kamen nun Sensen zum Einsatz. Mehl produzierten, statt der üblichen Handmühlen, viel effizientere Wasser- oder Windmühlen. Dennoch, das Leben in der neuen Heimat war ausgesprochen hart, wie ein alter Siedlerspruch belegt: »Der Vater findet den Tod, der Sohn hat noch Not, erst der Enkel hat das Brot.«
    Den Zugezogenen gewährten die Landesherren Zollfreiheit und Marktrecht, verzichteten eine Zeitlang auf Abgaben und stellten kostenlos Bauholz zur Verfügung; vielfach wurde in den Ortschaften das Recht der Städte übernommen, aus denen die Übersiedler stammten. »Nur in wenigen Fällen«, schreibt Stadtmüller, seien »Ansässige verdrängt« worden, die Regel sei ein »friedliches, teilweise konkurrierendes Nebeneinander« gewesen. Freilich gibt es auch Beispiele höchst unfriedlicher Koexistenz. In einem angeblich vom Kanoniker Dalimil Meziřičský verfassten Geschichtswerk wird von massiven Feindseligkeiten gegen Siedler berichtet. Ein antideutsch gesinnter Herrscher soll gar jedem 100 Mark Silber Belohnung versprochen haben, der ihm »100 Nasen brachte, die den Deutschen abgeschnitten waren«.
    Die Kolonisierung des Ostens, die erst unter anderem wegen der großen Pestepidemie gegen 1350 ins Stocken geriet, trug zwar das Adjektiv deutsch, aber unter diesen Begriff – es gab ja den Nationalstaat noch nicht – fielen genauso gut Österreicher oder Niederländer, auch Schotten und Dänen.
    Wie viele Menschen in Richtung Osten marschierten, lässt sich nur schätzen – es kann eine halbe Million gewesen sein, vielleicht auch viel mehr. Klar ist, dass sie oftmals in längeren
Etappen, Generation über Generation, den Marsch wagten: etwa erst einmal über die Eider hinweg, die Elbe, die Saale, dann weiter nach Polen, Böhmen, in die Karpaten oder die Gegend um Riga und nach Schlesien. Deutsche Orte in den neuen Siedlungsgebieten trugen hübsche Namen: Königssaal oder Paradies oder Himmelpforte.
    Klar ist auch, dass all dies nichts zu tun hatte mit monarchischen Ideen einer Ausweitung des Imperiums; wer will, der kann die Zeit der Ostabwanderung als gesamteuropäischen Prozess stetiger Intensivierung definieren – präzise als »Ausdruck des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums« (Higounet). Allerdings soll beispielsweise der ungarische König Géza II. (er regierte von 1141 bis 1162) Menschen vom Rhein und von der Mosel deswegen nach Siebenbürgen geholt haben, um sie gewissermaßen als Wehrbauern einzusetzen zur Verteidigung der Krone (»ad retinendam coronam«) gegen angriffslustige Kumanen, ein asiatisches Steppenvolk. Später bildeten sie Bollwerke gegen Mongolen und Türken. Gegen diese Version der Geschichte gibt es Einwände. Die Überlegung, Géza habe die Siedler »aus sicherheitspolitischen und zivilisatorischen Gründen« ins Land gelockt, hält etwa der Publizist Wilhelm Andreas Baumgärtner für eine »Legende, die durch ihre notorische Wiederholung inzwischen einen Wahrheitsanspruch erhebt«. Wie die »Siebenbürger Sachsen« nach Siebenbürgen kamen, auch Transsilvanien genannt, die Heimat Draculas, ist für ihn ein Rätsel. Bis heute habe es »niemand wirklich gelöst«.
    Als die Kreuzzügler 1099 Jerusalem, die geistliche Kapitale dreier Religionen, eroberten und ein Blutbad unter der jüdisch-muslimischen Bevölkerung anrichteten, hatte die Mordaktion eine ungeahnte Vorbildfunktion – quasi vor der Haustür. Jenseits der Elbe saßen die Wenden, auch »Heiden des Nordens« genannt, religiöse Eiferer konnten sich hier
abarbeiten, ohne Tausende Kilometer marschieren zu müssen. »Sachsen, Franken, Lothringer, Flamen, ihr berühmten Weltbezwinger, auf!«, hieß die schmeichelnd-geschickte Losung der Landesherren, alle müssten »zum Krieg für den Heiland« eilen und damit den »Streitern Christi zu Hilfe kommen«. Und sie versprachen: »Hier könnt ihr euer Seelenheil erwerben und, wenn es euch gefällt, das beste Land zum Bewohnen gewinnen.« Dies war vielleicht die wichtigere Aussage, denn wie bei den
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