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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Annette Großbongardt
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Westen wussten ja gar nicht, was über uns da im Osten hinweggegangen war«, notierte Lehndorff – er wusste freilich auch nichts von den zerbombten Städten im Westen. Es war ein buntes Kulturgemisch, das da mit ein paar Handkarren und Koffern vor den Türen stand: Sudetendeutsche und Donauschwaben, Pommern und Ostpreußen, Wolhynien-Deutsche und Wolga-Deutsche, Deutsche vom Schwarzen Meer, aus den Karpaten, der Bukowina und Galizien – sie brachten andere Traditionen mit, andere Dialekte, eine andere Geschichte und, ja, auch die Welt des Ostens und ihre Gerüche. Sie standen noch unter Schock, waren gedemütigt, besitzlos.
    Ihr Schlesien, Pommern und Siebenbürgen war nun auf ein paar Koffer mit Tischdecken, etwas Geschirr und ein paar Fotoalben zusammengeschnurrt, von ihren Geburtsorten blieb nicht viel mehr als die Trachten, die sie künftig zu rührseligen, zunehmend anachronistisch wirkenden »Tagen der Heimat« tragen sollten. Der »deutsche Osten« lebte in der Erinnerung weiter als »Heimaten im Kopf« (Karl Schlögel) – aber nur für einen Teil der Deutschen. Für die meisten
wohl blieben es ferne, fremde Regionen, trotz eines Paragrafen im Bundesvertriebenengesetz, der Bund und Länder zur Förderung der deutschen Kultur des Ostens verpflichtete.
    Im neugeschöpften Selbstbewusstsein der jungen Bundesrepublik, die sich aus den Trümmern eines Verbrechensregimes aufrappelte, war kein Platz für ostpreußische und schlesische Sentimentalitäten. Man wollte nicht zurückschauen auf die »Topografie des Verlustes«, wie sie der Historiker Schlögel nennt, sondern Neues aufbauen. Trotz »Ostkunde« im Unterricht verankerte sich die deutsche Geschichtslandschaft des Ostens nicht im historischen Bewusstsein der neugeborenen Nation.
    Zwar gab es einen Vertriebenenminister, und Politiker aller Couleur beschworen, die Oder-Neiße-Grenze sei nur vorläufig. SPD wie CDU signalisierten, eine Wiedervereinigung solle auch die ehemaligen Ostgebiete einschließen. Doch das waren Lippenbekenntnisse.
    »Breslau, Oppeln, Gleiwitz, Glogau, Grünberg, das sind nicht nur Namen, das sind lebendige Erinnerungen, die in den Seelen von Generationen verwurzelt sind und unaufhörlich an unser Gewissen klopfen«, gab sich die SPD in einem Grußwort zum Deutschlandtreffen der Schlesier 1963 noch solidarisch. Verzicht sei Verrat, das Recht auf Heimat lasse sich nicht verhökern: »Das Kreuz der Vertreibung muss das ganze Volk mittragen helfen.« Unterschrieben war das Telegramm auch von Willy Brandt.
    Als sich der Bundeskanzler jedoch 1970 anschickte, das deutsch-polnische Verhältnis auf eine neue Basis zu stellen, bekam er den Zorn der Vertriebenenverbände zu spüren. Seine Reise nach Warschau, um den deutsch-polnischen Vertrag zu unterschreiben, löste Turbulenzen aus. »Brandt an die Wand«, tönten rechte Scharfmacher, nieder mit dem »Verzichtspolitiker«, forderten Konservative. Sein Kniefall in
Warschau, seine Ostpolitik des Wandels durch Annäherung waren für sie blanker Landesverrat. Sogar Marion Gräfin Dönhoff, die sich so engagiert für den Dialog mit Polen im Zeichen einer neuen Politik einsetzte, sagte in letzter Minute Brandts Einladung nach Warschau ab. Sie könne nicht »assistieren«, erklärte sie, wenn der Verlust der Heimat amtlich besiegelt werde: »Ein Glas auf den Abschluss des Vertrages zu trinken schien mir plötzlich mehr, als man ertragen kann.«
    Scharenweise traten Vertriebene aus der SPD und der FDP, dem Koalitionspartner, aus. Das Verhältnis des Bundes der Vertriebenen (BdV) zu den Regierungsparteien war nun »feindselig«, wie Erika Steinbach zum 50. Jahrestag des BdV unverblümt einräumte. Der BdV lehnte sich danach eng an die Union an. Vor allem Linke, die 68er, machten Front gegen die Vertriebenenverbände, für sie ein Tummelplatz für Ewiggestrige, Revanchisten und Geschichtsrevisionisten. Sie selbst quälten sich mit dem polnischen »Wroclaw« oder »Szczecin« statt Stettin, um nicht in den Verdacht falscher Gesinnung zu geraten.
    Doch heftiger wurde jetzt die Debatte der deutschen Schuld geführt. »War für Adenauer 1945 der entscheidende Bezugspunkt gewesen«, so die Polen-Expertin Helga Hirsch, »wählten die 68er gemeinsam mit Willy Brandt 1933 als Ausgangspunkt ihrer Erinnerungspolitik.« Nun, mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, kamen sich zwei Verbrechen ins Gehege: »Wer die eigene Betroffenheit zum Thema machte, schien die Dimension des anderen Verbrechens, die anderen
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