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Die Daemonenseherin

Die Daemonenseherin

Titel: Die Daemonenseherin
Autoren: Brigitte Melzer
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dreißig. Schließlich klingelte sie noch einmal. Was, wenn er nicht öffnete?
    Der Türsummer erlöste sie aus ihrer Ungewissheit. Sie stemmte sich gegen die schwere Holztür und drückte sie auf. Auf dem Weg ins Haus streifte sie die Handschuhe ab und stopfte sie in die Jackentaschen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnten, das durch die schmalen Fenster fiel. Vor ihr wand sich ein dunkles Treppenhaus nach oben. Sie ging an den Briefkästen vorbei und stieg die knarrenden Stufen in den dritten Stock hinauf. Die drei Wohnungstüren hier oben waren geschlossen. Sie folgte dem Gang bis zur letzten Tür. Darauf pappte ein ähnlicher Aufkleber wie unten am Klingelbrett. J. S. – mehr nicht. Sie streckte die Hand nach der Klingel aus und ließ sie wieder sinken. Was, wenn er nicht allein war? Was, wenn jemand bei ihm war, der ihr Schwierigkeiten machen konnte? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nicht, nachdem sie wusste, wer hinter dieser Tür lebte. Sein bloßer Anblick hatte genügt, den Funken der Hoffnung, der vor so langer Zeit erloschen war, erneut glimmen zu lassen. Wenn sie jetzt ging, ohne mit ihm zu sprechen, würde sie auch das letzte bisschen Zuversicht verlieren, das noch in ihr steckte.
    Ihre Hand schwebte über dem Klingelknopf. Wenn es schiefging, war sie tot. Andererseits ließ sich ihr Dasein ohnehin schon lange nicht mehr als Leben bezeichnen. Was habe ich schon zu verlieren? Sie straffte die Schultern und drückte den Knopf. Der Ton der Klingel war so laut und schrill, dass Alessa zusammenzuckte. In der Wohnung waren Schritte zu hören, kamen näher und verstummten. Dann wurde die Tür ein Stück weit geöffnet.
    Professor Sparks stand im Türspalt. Gekleidet in ein abgewetztes Cordsakko und eine zerknitterte dunkelbraune Hose sah er Alessa durch eine Hornbrille an, deren linker Bügel nur noch von einem Streifen Klebeband gehalten wurde.
    »Miss Flynn.« Seine Miene schwankte zwischen Überraschung und Schrecken, trotzdem fragte er höflich: »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich muss mit Ihnen sprechen, Professor.«
    Sparks stand immer noch wie angewurzelt da. Er sah sie so durchdringend an, dass Alessa versucht war zurückzuweichen, doch sie zwang sich, stehen zu bleiben und seinen Blick zu erwidern.
    Himmel, sagen Sie etwas!
    »Mein Gott«, flüsterte er dann, »Sie sind eine von ihnen !«
    Nicht unbedingt das, was Alessa hören wollte. Andererseits ersparte es ihr lange Erklärungen. Der Professor löste seinen Blick von ihr und trat zur Seite, um sie hereinzulassen. Mit einem leisen Klacken rastete der Riegel ein, als er die Tür schloss. Ein kaum vernehmbarer Laut, dessen Endgültigkeit Alessa schaudern ließ.
    »Sie sollten nicht hier sein.« Der Professor führte sie in ein kleines Wohnzimmer, nahm ein paar Bücher vom Sofa und deutete darauf. »Bitte.«
    Obwohl ihr noch immer kalt war, schlüpfte Alessa aus ihrem Parka und legte ihn neben sich auf das Sofa. Geduldig saß sie da und beobachtete, wie Sparks die Bücher auf den kleinen Sekretär legte, der in einer Ecke des Raumes stand. Bis auf einen großen weißen Einbauschrank mit Lamellentüren und eine offene Tür, hinter der Alessa die Umrisse eines Bettes ausmachte, waren alle Wände mit Bücherregalen zugestellt.
    »Möchten Sie etwas trinken?«, erkundigte sich der Professor höflich, und als Alessa den Kopf schüttelte, meinte er: »Ich für meinen Teil könnte jetzt durchaus eine Tasse Tee gebrauchen. Macht es Ihnen etwas aus?«
    »Nein, natürlich nicht.« Ihr Blick folgte dem Professor, als er das Wohnzimmer verließ, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte und nur noch das Ächzen der Dielen zu hören war. Alessa fürchtete schon, er würde die Gelegenheit nutzen und die Flucht ergreifen, dann jedoch begann er vernehmbar in der Küche zu hantieren.
    Soweit sie wusste, hatte ihn niemand mehr gesehen, nachdem er vor drei Jahren vom Anwesen der Gemeinschaft verschwunden war. Dass sie ihn gefunden hatte, musste ein Wink des Schicksals sein!
    Sie lauschte dem Professor, hörte das Plätschern von Wasser und Schranktüren, die geöffnet und wieder geschlossen wurden. Schließlich gelang es ihr nicht länger, ihre Ungeduld in Zaum zu halten. Sie stand auf und ging in die Küche. »Professor, ich brauche Ihre Hilfe.«
    Er stellte den Teekessel auf den Herd, schaltete ihn ein und hängte einen Teebeutel in eine Tasse, ehe er Alessa ansah. Seine
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