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Die Company

Die Company

Titel: Die Company
Autoren: Robert Littell
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… drei Panzer … Freiwillige von uns haben sie aufgehalten … drei von ihnen wurden getötet. Dein Vater ist einer von ihnen.«
    Tessa war wie betäubt. »Ich muss ihn sehen«, flüsterte sie.
    Als Tessa neben dem Leichnam ihres Vaters niederkniete, verstummten die Menschen auf dem dunklen Platz. Zuerst hatte sie Angst, ihn zu berühren, weil sie fürchtete, ihm noch mehr weh zu tun. Leos Brust war völlig zerfetzt. Das Gesicht, das aussah, als wäre es in vierundzwanzig Stunden um zehn Jahre gealtert, war verquollen und farblos. Die Augen waren geschlossen. Und doch wirkte er auf Tessa so, als hätte er endlich so etwas wie Frieden gefunden.
    Sie nahm ihm das Kreuz von der Brust und reichte es dem Priester. »Er war kein Christ«, sagte sie. »Er war auch kein richtiger Jude. Er war –« Ihre Stimme versagte. Doch dann fand sie die Worte, die sie ihm zu schulden meinte. »Er war ein ehrenhafter Mann, der getan hat, was er für richtig hielt.«
     
    Als der Kriegsrat, der unter Krjutschkows Leitung in der Lubjanka tagte, eine Pause einlegte, ging Jewgeni in die Kantine, um sich einen Happen zu essen zu holen. Auf dem Weg zurück zum Sitzungssaal kam er an der offenen Tür eines Büros vorbei, in dem ein KGB-Oberst den Piratensender der Konterrevolutionäre eingeschaltet hatte und fleißig mitschrieb. Jewgeni wurde hellhörig und blieb stehen.
    »… gelang es unseren Freiheitskämpfern, die Panzer aufzuhalten. Drei von unseren Leuten ließen dabei ihr Leben. Wir ehren die Helden Dmitri Komar, Ilja Kritschewski und Leon Kritzky –«
    Jewgeni fragte verdutzt: »Ist da eben der Name Kritzky gefallen?«
    Der Oberst blickte auf seine Notizen. »Leon Kritzky. Ja. Kennen Sie den?«
    »Ich kenne jemanden namens Kritzky«, sagte Jewgeni und schaltete schnell, »aber sein Vorname ist nicht Leon. Und mein Kritzky ist gegen Jelzin.«
    Jewgeni ging rasch auf die Herrentoilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er beugte sich weit nach vorn, bis er mit der Stirn den Spiegel berührte. Wie hatte das bloß passieren können? Wie war es möglich, dass Leo, der dreißig Jahre lang für den sozialistischen Staat sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, ein Opfer des Ausnahmezustandskomitees geworden war? Er hätte doch einfach nur in seiner Wohnung zu bleiben brauchen. Was zum Teufel hatte ihn bloß getrieben, in seinem Alter eine Barrikade zu verteidigen?
    Leos absurder Tod rüttelte Jewgeni auf. Er richtete sich auf, betrachtete sich im Spiegel und meinte flüchtig, eine Totenmaske zu sehen. Plötzlich konnte er ganz klar denken.
    Er wusste, was er tun musste, um Leos Tod zu rächen.
    Jewgeni holte seinen Wagen aus der Tiefgarage und fuhr durch verlassene Straßen zur Privatklinik des KGB. Als er durch die Drehtür mit dem angelaufenen Hammer-und-Sichel-Emblem darüber in die Eingangshalle trat, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht erinnern konnte, wie er hierher gekommen war. Zu dieser frühen Morgenstunde hielt nur ein alter, halb blinder Portier in der Eingangshalle Wache. Er berührte seine Mütze, als er den Schatten eines Mannes bemerkte, der auf dem Weg zur Treppe war.
    »Darf ich Ihren Namen erfahren?«, rief er. »Ich muss alle Besucher eintragen.«
    »Osolin«, sagte Jewgeni.
    Wie ein Traumwandler erreichte Jewgeni die Tür am Ende des Flurs im dritten Stock. Der Zettel mit der Aufschrift »Shilow, Pawel Semjonowitsch« klebte noch immer daran. Jewgeni trat ein. Gelbliches Licht von der Straße malte Flecken an die Decke. In der Dunkelheit vernahm er das Surren einer elektrischen Pumpe und das mühsame Atmen der gespenstischen Gestalt in dem Metallbett. Jewgeni trat näher und blickte auf den abgemagerten Körper unter dem fleckigen Leintuch hinunter. Kleine Luftblasen schienen in Stariks Kehle zu zerplatzen, während die Flüssigkeit aus dem Tropf in seine Brust sickerte.
    So also hatte Tolstoi ausgesehen, als er ausgestreckt auf einer Holzbank im Astapowo-Bahnhof lag, den dünnen Bart verfilzt von Schleim und ausgehustetem Blut, über ihn gebeugt der entsetzte Bahnhofsvorsteher Osolin, der flehentlich betete, dass das berühmte Fossil eines Mannes lange genug am Leben bleiben würde, um woanders zu sterben. Starik bewegte sich, und ein Stöhnen kam aus seinem geöffneten Mund. Er musste gespürt haben, dass jemand an seinem Bett stand, denn er streckte die knochigen Finger aus und schlang sie um Jewgenis Handgelenk.
    »Bitte«, keuchte er. »Sag mir … ist das Spiel vorüber?«
    »Sosehr Sie sich auch
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