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Die Company

Die Company

Titel: Die Company
Autoren: Robert Littell
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die Türen abzählte. An der dritten schob er einen geraden Draht mit gebogenem Ende ins Schlüsselloch und bewegte ihn geschickt hin und her, bis das Schloss aufsprang. Er öffnete die Tür behutsam und lauschte einen Moment. Als er nichts hörte, schlich er durch das Foyer in einen großen, reich möblierten Salon mit einem Kamin an jeder Seitenstirnwand. Die Fensterläden an allen vier Fenstern waren geschlossen. Eine einzige Tischlampe mit schwacher Birne diente als Nachtlicht, genau wie es in seinen Instruktionen gestanden hatte.
    Der Kalabrier huschte auf geräuschlosen Gummisohlen durch den Raum und einen kleinen Gang hinunter, bis er die Schlafzimmertür erreichte. Er drehte den Türknauf aus Porzellan, schob vorsichtig die Tür auf und lauschte erneut. Eine stickige Schwüle, der unangenehme Geruch eines Altmännerzimmers, drang aus dem Raum; die Person, die ihn benutzte, schlief offensichtlich nicht mit geöffneten Fenstern. Der Kalabrier knipste seine Minitaschenlampe an und inspizierte das Zimmer. Anders als der Salon war es spartanisch möbliert: solides Messingbett, Nachttisch, zwei Holzstühle, der eine mit ordentlich zusammengelegter Kleidung darauf, der andere mit Akten bedeckt, ein Waschbecken mit einem einzigen Wasserhahn, eine nackte Glühbirne an der Decke, ein schlichtes, hölzernes Kruzifix an der Wand über dem Kopfende des Bettes. Er durchquerte den Raum und blickte auf die Gestalt hinab, die unter der bis zum Kinn hochgezogenen Bettdecke schlief: ein gedrungener Mann mit dem runzeligen Gesicht eines Bauern; er hatte seine neue Stelle erst vor vierunddreißig Tagen angetreten, kaum genügend Zeit, um sich in dem Palazzo zurechtzufinden. Sein Atem ging gleichmäßig und tief, ließ die Haare zittern, die aus seiner Nase sprossen; er schlief fest unter dem Einfluss eines Betäubungsmittels. Auf dem Nachttisch standen ein Krug mit Milchspuren auf dem Boden und ein Foto in einem Silberrahmen – es zeigte einen kirchlichen Würdenträger, der über einem ausgestreckt auf dem Boden liegenden jungen Priester das Kreuzzeichen schlug. Unten auf dem Foto stand in energischer Handschrift: »Per Albino Luciani, Venezia, 1933«, unterschrieben mit »Achille Ratti, Pius XI.«. Neben dem Foto lagen eine Lesebrille, eine abgegriffene Bibel mit etlichen Lesezeichen darin sowie eine gebundene und nummerierte Ausgabe von Humani Generis Unitas, der nie verkündeten Enzyklika von Papst Pius XI., in der er Rassismus und Antisemitismus verurteilte und die an seinem Todestag im Jahre 1939 auf seinem Schreibtisch zur Unterschrift bereitgelegen hatte.
    Der Kalabrier sah auf seine Armbanduhr und machte sich an die Arbeit. Er spülte das Milchglas am Waschbecken aus, trocknete es am Saum seines Habits ab und stellte es wieder genau an dieselbe Stelle auf dem Nachttisch zurück. Er nahm das Fläschchen mit Milch aus seiner Tasche und schüttete den Inhalt in das Glas, damit sich ein Rest giftfreier Milch darin befand. Die Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, wandte er sich dem betäubten Mann im Bett zu, zog die Decke weg und drehte ihn auf den Bauch. Dann schob er ihm das weiße Baumwollnachthemd hoch, so dass die Vene in der Kniekehle frei lag. Die Leute, für die der Kalabrier arbeitete, hatten die Krankenakte von Albino Luciani in die Hände bekommen, nachdem er im Winter zuvor routinemäßig eine Darmspiegelung hatte vornehmen lassen; da er an Krampfadern litt, war der Patient vorsorglich gegen Venenentzündung behandelt worden. Der Kalabrier holte ein Metallkästchen aus der Tasche und öffnete es auf dem Bett neben dem Knie. Rasch und gekonnt – nach seinem Hochseilunfall hatte er mehrere Jahre als Krankenpfleger gearbeitet – steckte er eine dünne Nadel auf die mit einem Extrakt der Rizinuspflanze gefüllte Spritze, stach die Nadel in die Vene und injizierte eine Dosis von vier Milliliter Flüssigkeit in den Blutkreislauf. Laut seinem Auftraggeber würde es binnen Minuten zu einem Herz-Kreislauf-Kollaps kommen; binnen Stunden würde das Toxin sich spurlos aufgelöst haben und für den unwahrscheinlichen Fall einer Obduktion nicht mehr nachweisbar sein. Vorsichtig zog der Kalabrier die feine Nadel heraus, wischte den winzigen Tropfen Blut mit einem feuchten Schwämmchen ab, beugte sich dann ganz dicht vor, um zu sehen, ob er die Einstichstelle noch erkennen konnte. Eine leichte Rötung war auszumachen, so groß wie ein Sandkorn, aber auch die würde verschwunden sein, wenn man den Leichnam am Morgen
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