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Die Chroniken von Blarnia

Die Chroniken von Blarnia

Titel: Die Chroniken von Blarnia
Autoren: Michael Gerber
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öffnete er das Anwesen für Touristen. Innerhalb eines halben Jahres ent-wickelte er jedoch einen derartigen Hass auf seine Mitmenschen, dass es ihm nur konsequent erschien, das Haus seiner Vorfahren in eine schwer bewachte Hochburg pseudowissenschaftlicher Folter zu verwandeln. Genau wie Ed war er ein sehr leidenschaftlicher Mann - sofern man unter »Leidenschaft« die Fähigkeit versteht, anderen das Leben schwer zu machen.
    Das Herrenhaus bestand aus einem Labyrinth holzvertäfelter, von viel zu dunklen Gemälden berühmter Vorfahren gesäumter Korridore. (Sämtliche Urahnen des Professors trugen üppige Backenbärte zur Schau, selbst die Frauen.) Zu Petes Begeisterung standen überall Ritterrüstungen herum, alle grausam durchbohrt und/oder zerbeult - ein Zeichen, dass die Vorfahren des Professors entweder miserable Krieger oder schamlose Leichenfledderer waren.
    Überall im Haus gab es lustige kleine Gänge und Treppen, die nirgendwohin führten - und hinter jeder dritten Tür verbarg sich eine Backsteinmauer mit der Aufschrift »Angeschmiert!«. Es war ohne Frage das merkwürdigste Haus, das die Kinder je gesehen hatten, und auch das verstaubteste: Frau MacBeth, Professor Berkes Haushälterin, hatte einfach keine Zeit zum Putzen, denn sie war vollauf damit beschäftigt, sich Unmengen unsichtbaren Bluts von den Händen zu waschen.

    Da sich niemand die Mühe gemacht hatte, Loo zu erklären, was ein Seitpferd war, hatte sie, während sie von einem Zimmer ins nächste wanderte, das Bild des durchfallgeplagten, bissigen Shetlandponys im Kopf, auf dem sie im vergangenen Sommer geritten war. Es war schon erstaunlich, wie ähnlich ein mit einem Laken verhülltes altes Möbelstück einem Pferd sehen konnte, zumindest in den Augen einer halb verhungerten Achtjährigen. Nach fünf Zimmern voller Schimmelgeruch und Enttäuschungen konnte Loo sich vor lauter Magenknurren kaum noch konzentrieren.
    Der nächste Raum, den Loo betrat, schien bis auf einen großen Schrank leer zu sein. Es war ein ganz normales Zimmer, das sich in keiner Weise von den fünf vorangegangenen unterschied, aber aus irgendeinem Grund blieb Loo hier hängen. Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte sie den Eingang eines Kaninchenbaus, einen Spiegel, Gleis 9 3 / 4 und einen kleinen Tesserakt, der in der Ecke lag. Loo schätzte, dass der Schrank gerade groß genug war, dass ein Pony darin auf den Hinterbeinen stehen konnte... Die Tür ließ sich ganz leicht öffnen, beinahe als sollte sie hineinsteigen.
    Loo trat ein und achtete darauf, die Tür einen kleinen Spalt offen zu lassen. Sie wusste, wie dumm es ist, sich in einen Schrank einzuschließen, aber wie Ed immer sagte: »Dummheiten sind Loos Spezialität.« Allein in den letzten zwölf Monaten war sie in einen ausrangierten Kühlschrank geklettert, hatte sich in einen Brunnen hinuntergelassen und sich sogar in den Radschacht eines Flugzeugs mit Reiseziel Westindische Inseln gequetscht. Und sie hatte ein seltenes Talent, in stinkenden Chemieklos stecken zu bleiben, was Ed dazu inspirierte, ihr den Spitznamen »00« zu geben.
    Loo schaute sich im Schrank um. Der schmale Lichtstrahl enthüllte zwar kein Pferd, dafür aber die abgefahrensten Klamotten, die sie je gesehen hatte. Es waren typische Hippiesachen: Sergeant-Pepper-Jacken aus Satin, perlenbestickte Westen, Capes aus schwarzem Samt und psychedelischen
    Paisley-Stoffen. Sie inspizierte ein Satin-Jackett, durchwühlte die Taschen und fand einen Zuckerwürfel.
    »Hey, super!«, sagte Loo leise. Wo es Zuckerwürfel gab, waren Ponys meist nicht fern. Loo schob die Klamotte auseinander und drang tiefer in den Schrank vor. »Es muss hier doch irgendwo sein«, dachte sie und streckte die Hände aus, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. »Komm her, kleines Pony...«, sagte Loo leise. »Wenn du nicht rauskommst, esse ich deinen Zuckerwürfel auf...« Sie wartete zwei Sekunden und lauschte angestrengt auf ein Wiehern oder Geräusche, die auf Verdauungsbeschwerden hindeuteten. Als sie nichts dergleichen hörte, steckte sie sich den Würfel in den Mund und war sofort froh, das getan zu haben, denn nach dem winzigen Haps fühlte sie sich sofort besser.
    Was für ein gigantischer Schrank, dachte Loo, während die Wände zu schwanken begannen. Sie stieß mit dem Fuß gegen etwas Hartes und bückte sich, um nachzusehen, worum es sich handelte. Es war eine große braune Glasflasche mit einem vergilbten Etikett, das Loo nur mit Mühe
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